Volltext: Nr. 1 1926 (Nr. 1 1926)

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Nachrichten 
Nr. 1 
Ungeheuerlich ist die Auslegung der Gesetze. Kein 
soziales Empfinden, mit kaltem Lächeln geht man über 
die furchtbare Not hinweg. Wiederholt wußten Inva¬ 
lide in das kühle Grab gesenkt werden, die vielleicht noch 
dein Leben hätten erhalten bleiben können, wenn die 
„Fürsorgebehörde" nicht versagt hätte oder weniger 
grausam gewesen wäre. 
Doch darüber nichts mehr, die Mitglieder wissen ja 
alles, ihre Freundin, die Presse, hat ihnen alles erzählt. 
Sprechen wir vom neuen Jahr. Auch diesmal wün¬ 
schen alle ein besseres Jahr herbei. Hoffen wir, daß es 
der Tatkraft, der Zähigkeit und Ausdauer des Zentral- 
Verbandes gelingen wird, im neuen Jahre die 9. No- 
velle durchzubringen, die Trafikenverordnung wieder zu 
erreichen und auch auf dem Gebiete der Arbeitsvermitt- 
lung Ersprießliches zu leisten. Es wird niemand die zu 
überwindenden Schwierigkeiten verkennen. Sie müssen 
alle überwunden werden zum Wohle der Gesamtheit der 
Kriegsopfer. 
Die Berbandszeitung wird auch im neuen Jahre 
allen ein guter Freund und Berater sein und bleiben. 
Sie wird Leid und Freud' mit allen teilen, die sich ihre 
Freundschaft erobern. Sie verlangt aber auch etwas. 
Sie will mit Eifer gelesen werden, sie will zu Herzen 
reden, und deshalb will sie nicht in den Ofen, sondern 
in eine Sammlung wandern, um dadurch ein Nachschlage- 
werk zu werden, dadurch kann der Organisationsgedanke 
vertieft werden. 
In letzter Zeit beschäftigen sich die Zeitungen vielfach 
mit der Frage der Aufhebung des Mieterschutzes. Die 
einen betrachten die Aufhebung des Mieterschutzes und 
des Anforderungsgefetzes als eine volkswirtschaftliche 
Notwendigkeit, damit die Bautätigkeit wieder einsetze, 
ausländisches Leihkapital in das Land fließt. Die anderen 
ersehen darin eine Katastrophe, da die heute wirtschaftlich 
schwache Arbeiterschaft die valorisierten Zinse nicht zah¬ 
len könne und obdachlos würde. Sie verwahren sich da- 
gegen, daß in einer Zeit furchtbarsten Elendes, ungeheu¬ 
rer Arbeitslosigkeit eine kleine Gruppe von Menschen 
ein arbeitsloses Einkommen beziehen soll. 
Wir wollen uns nicht damit beschäftigen, ob die Auf- 
Hebung des Mieterschutzes eine volkswirtschaftliche Not- 
wendigkeit darstellt, ob dem Hausbesitzer ein arbeitsloses 
Einkommen gebührt, ob es überhaupt ein solches ist, 
sondern lediglich feststellen, daß die Aufhebung der Ge- 
fetze für die Kriegsopfer eine Katastrophe bedeuten 
würde. 
Seit Jahren befinden sich die Kriegsopfer in unge- 
heurer Not, Die Arbeitslosigkeit macht sich unter ihnen 
besonders arg bemerkbar, das Jnvaliden-Beschäftigungs- 
Gesetz ist nicht imstande, der Arbeitslosigkeit Schranken 
zu setzen, immer schrecklicher wird das Gespenst der Ar- 
beitslosigkeit. 
Dem Kriegsinvaliden, der nur mehr einen Teil der 
Arbeitsfähigkeit besitzt, wird das Vegetieren nahezu un- 
möglich gemacht. Selbstmorde von zur Verzweiflung ge- 
triebenen Kriegsopfern sind an der Tagesordnung. Der 
Strom der Zeit verschlingt sie, mit drei Zeilen werden 
sie als Selbstmörder von den Zeitungen abgetan, um 
dann im ungeweihten Selbstmörderwinkel verscharrt zu 
werden. 
Niemand kümmert sich um sie, denn sie spielten im 
Leben keine „Rolle". Sorgfältig wird vermieden, zu un- 
tersuchen, warum Selbstmord begangen wurde. Die Re° 
gierung, die Gesellschaft, das kapitalistische System müßte 
als schuldiger Teil bezeichnet werden. Das geht nicht. Die 
Leute müssen hingestellt werden als von Gott verlassen, 
als Individuen, von denen man nur mit Abscheu spricht. 
Daß aber dieselbe Gesellschaft, die sich heute mit Ab- 
scheu von diesen Bedauernswerten wendet, die Schuld 
trägt, daß Krieg ward, der Millionen Menschen Gesund- 
heit und Lebensglück raubte, der sie aus geordneten Fa- 
milienverhältnissen herausriß, ihnen das Recht auf Ar- 
beit nahm, der sie obdachlos machte, wird verschwiegen. 
Die Gesundheit verloren, den Ernährer verloren, keine 
Arbeit. 
Alle diese Umstände sind geeignet, einen Menschen in 
helle Verzweiflung, zum Selbstmord zu treiben, ohne daß 
ihn Gott verläßt. Das Gehirn arbeitet fieberhaft, etwas 
zu finden, um sich und die Seinen fortzubringen. Alles 
umsonst. Zur Verschärfung der ohnedies schrecklichen Lage 
kommt noch die Kündigung seiner Wohnung, denn er 
kann die Miete nicht bezahlen. Er steht auf der Straße, 
die Kinder frieren in ihren jämmerlichen Kleidchen und 
weinen. Dumpf brütend steht der Vater bei seiner Habe 
und durch den Kopf gehen wirre Gedanken. Warum all 
das? Was habe ich verschuldet? Bin ich nicht ebenso ein 
Mensch, der Recht zum Leben hat, als der Reiche? Wo 
bleibt der Dank des Vaterlandes, wo der Dank des Ka- 
pitals, das ich an der Front mit meinem Leibe geschützt 
habe, wo ist eine Gerechtigkeit, wo — ja, wo •— bleibt 
die Hilfe Gottes, der doch den Armen beisteht? — Ich 
glaube an keine Gerechtigkeit mehr, ich glaube nicht mehr 
an Nächstenliebe, der Nächste ist das Geld, und wo solches 
nicht zu finden ist, gibt es keine Liebe, gibt es keinen 
Nächsten. 
Die Menschen gehen vorüber, bemitleiden die Armen 
oder sprechen befriedigend über die Taktik der Hausher- 
ren, der diese „Bagage", die nichts zahlen will, heraus- 
warf. Der Hausherr, der heute nichts hat von seinem Be- 
sitze, soll verzichten auf die Miete, weil der Mieter nicht 
zahlen will, obwohl ihm der Staat eine Invalidenrente 
gibt? 
Wie sieht aber diese Invalidenrente aus? Vollständig 
arbeitsunfähig, also hundertprozentig invalid sein, um 
die höchste Rente von 1,200.000 Kronen zu erhalten. 
Mit diesem Betrage, der aber nur in der ersten Ortsklasse 
gezahlt wird, während in den niedrigeren Ortsklassen 
nur 900.000 Kr. gezahlt werden, muß er einen ganzen 
Monat lang die Bedürfnisse des Alltags decken. Wer der 
Meinung ist, daß das Auslangen gefunden werden kann, 
versuche es einmal, mit diesem Betrage auszukommen. 
Kein Wunder daher, wenn dem Invaliden kein Geld 
mchr bleibt zur Bezahlung seiner Miete. 
Und noch krasser.'st die Sache bei den Witwen, denen 
die Regierung eine Monatsrente von 120.000 Kronen 
gibt, oder bei den alten Eltern, die eine Rente von 
108.000 Kr. im Monat beziehen. Einen ganzen Monat 
leben, für Kleider sorgen und Miete bezahlen! 
Jeder Mensch, der menschlich denkt, ist empört über 
diese furchtbare Tatsache. Rur die Regierung bleibt hart 
und ruhig. 
Alle Forderungen des Ientralverbandes werden glatt 
abgelehnt, der Bundeskanzler hatte die Unverfrorenheit, 
in Genf zu erklären, den österreichischen Kriegsopfern 
geht es nicht fo schlecht. 
Das Mietengesetz soll geändert, die Miete auf das 
KOOOfache erhöht werden, weil die Hausherren nicht 
mehr leben können. Das begreift die Regierung, sie be- 
müht sich, den Hausherren zu helfen, denkt aber nicht 
daran, den Menschen, die dadurch hart betroffen werden, 
einen Zuschuß zu geben, damit sie die Miete bezahlen 
können. Die Miete käme monatlich auf 200.000—500.000 
Kronen zu stehen, also höher, als die Renten der Witwen 
oder Hinterbliebenen sind. Der Staat würde nicht einmal 
die Miete bezahlen. Wovon die Invaliden, die Hinter- 
bliebenen leben sollen, kümmert ihn nichts. 
Man mag über dieses Problem denken wie man will. 
Das eine muß festgehalten werden: So lange die Renten
	        
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