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Seelen aufleuchten lassen — deshalb fehlte. ihm die
quellende Liebe des überströmenden Lebens aus dem
Überfluß der Seele: seine Liebe war Humanität, Mit-
leid, Wohlwollen, aber nicht die rückhaltlose Selbst-
hingabe für die andern, die zu einer unerschöpflichen
Entfaltung der in uns keimhaft verborgenen Herrlich-
keit führt.
Weil sich ihm Gott nicht offenbarte, wie ihn Jesus
sah, blieben ihm die Worte Jesu ohne Leben. Er er-
füllte sie mit seinem Leben. Aber das ihnen eigentüm-
liche Leben blieb ihm fremd. So wurden sie ihm zu
Geboten nach Art der alttestamentlichen, aber nicht zu
Wegweisern zu der neuen Art Leben, die aus der
schöpferischen Entfaltung des unsichtbaren Wesens in
uns entspringt.
* x *
Immer wieder konnte man in. den Nachrufen, mit
denen der durch. die Pforte. des Todes geschrittene
Tolstoi von den gebildeten Europäern begraben wurde,
lesen, „sein sittliches Streben bezeichne, alles in allem
genommen, den Versuch, ob ein einzelner Mensch inner-
halb der Verhältnisse des modernen Zusammenlebens
und -wirkens restlos Christis sittlichem Gebot zu folgen
vermöge‘“, und daß dieser Versuch trotz aller groß-
artigen Opfer und Leistungen mißlungen sei. ‚Das ist
zweifellos richtig, aber aus anderen Gründen, als die
öffentliche Meinung dafür angibt. Nicht, weil Christi
Ethik, restlos befolgt, zur Selbstvernichtung führt,
nicht, weil sie Unmenschliches verlangt, sondern weil
die Worte Jesu überhaupt keine sittlichen Gebote sind,
weil sie nicht durch Willenstaten, sondern nur durch ein
neues. Werden erfüllt werden können. Aber das ver-
steht unsre öffentliche Meinung nicht, weil sie das Reich
Gottes nicht sieht, von dessen unmittelbaren Lebens-
äußerungen. Jesu Worte zeugen. So ist allerdings
durch Tolstoi die „christliche Ethik“ ad absurdum ge-
führt, aber. nicht Jesus und sein Vorhaben, sondern
das herrschende Mißverständnis Jesu.
Aber es'ist nicht zu erwarten, daß den Menschen
endlich die Augen darüber,aufgehen. Man wird weiter
Jesus fallen lassen -und an‘ dem Mißverständnis Jesu