innerlich religiös waren, die sogar viel beteten, die sich aber ängstlich
fürchteten, daß man von ihrer Religion etwas merken könnte. Ge¬
legentlich ging das sogar so weit, daß man bewußt unreligiös oder
religiös gleichgültig tat, bloß um die eigenen religiösen Bewegungen
und Bedürfnisse zu verbergen. Zch lernte eine Reihe von Männern,
namentlich unter den Offizieren, aber auch in anderen Kreisen kennen,
die ihr religiöses Innenleben so sehr als heiliges Geheimnis hüteten,
daß man den Lindruck gewinnen mußte, sie seien frei von jedem Linsluß
der Religion und jeder religiösen Betätigung, wie oft mußte ich dann
staunen, wenn ich als Seelsorger unter vier Augen von den religiösen
Stimmungen und Röten solcher Männer erfuhr, wo doch der äußere
Anschein ganz anders gewesen war. (Vst war es bei solchen Männern
gar nicht einmal Mangel an Mannesmut, an Zivilcourage, sondern die
Furcht an Autorität zu verlieren, wenn man sie etwa religiös „weich"
gesehen hätte. Bei einigen katholischen Offizieren fiel mir das ebenso
auf wie bei katholischen Beamten und Professoren. Der evangelische
Volksgenosse tat sich da bei der engen geistigen Verbindung zwischen
protestantischem Bekenntnis, protestantischer Kirche und protestanti¬
schem Kaisertum und Staat viel leichter.
Dann dürfen wir auch nicht vergessen, daß auch der Materialismus
und die rationalistische Aufklärung ln der Zeit vor dem Kriege das
Zhrige getan hatten, um der Religion den beherrschenden Linsluß aus
viele Seelen zu nehmen. Gewiß war die gebildete Schicht unseres
Volkes vor dem Kriege mehr vom philosophischen Materialismus be¬
herrscht. als sie es heute ist, während in den Volksmassen die Verhält¬
nisse umgekehrt liegen mögen. Zür die ersten anderthalb Jahrzehnte
des ro. Jahrhunderts in Deutschland war ja kennzeichnend das Stehen¬
bleiben bei vorletzten Fragen, vorletzten Zntereffen, vorletzten Zielen.
Die letzten Fragen und letzten Antworten, die das Bereich der Religion
bilden, waren damals weniger aktuell. So wirkten Materialismus,
Subjektivismus und Utilitarismus in der Zeit vor dem Kriege mit,
um die Linschätzung der Religion zurückzudrücken.
Lndlich stellten der Modernismus innerhalb des katholischen Be¬
kenntnisses und die vielfach nachweisbare rationalistisch-ethisierende
Richtung innerhalb des Protestantismus Kräfte dar, die ebenfalls an
der Zurückdrängung der persönlichen Religion aus ihrer überragenden
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