Volltext: Kleiner Kriegs-Kalender für das Jahr 1917 (1917)

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Da hob der Alte die Flöte zum Munde und eine seltsame, 
gedämpfte Musik klang an mein Ohr. Allmählich wurden die 
Töne greller, nervenzerreißender, das Feuer innerer Erregung 
leuchtete aus den Augen der versammelten Inder und auch ich 
vermochte mich der dämonischen Gewalt dieser Musik nicht zu 
entziehen. 
Der Voghi schien seine Zuschauer vergessen zu haben; 
ein starrer Ausdruck trat in seine Augen, die wie gebannt an 
dem geheimnisvollen Kästchen hingen. 
Selbst, wie von einer unsichtbaren Macht gebannt, konnte 
ich den Blick nicht mehr von dem Kasten wenden, und mit 
Befremden bemerkte ich bald nachher, wie sich der Deckel ruck¬ 
weise hob und der züngelnde Kopf einer Kobra, der gefährlichsten 
Giftschlange Indiens, zum Vorschein kam. 
Den Oberleib, wie in Angriffstellung erhoben, die stechenden, 
kalten Augen auf den Voghi gerichtet, schlüpfte sie allmählich 
ganz ins Freie und schlängelte sich auf den Spieler zu. 
Greller jubilierte die Flöte, und wie von den Tönen er- 
erschreckt, wich die Giftnatter zurück; sowie aber die Musik 
leiser wurde, näherte sie sich, wie von magischer Gewalt an¬ 
gezogen, ihrem Meister. 
Eine ganze Weile ging dies Spiel so fort. Man konnte 
ganz vergessen, daß eine Unvorsichtigkeit dem Inder den Tod 
bringen konnte, und einigemale erwartete ich stockenden Kerzens, 
daß sich das Reptil auf den Voghi schnellen würde; aber immer 
wieder beruhigte oder erschreckte es die Musik. 
Noch einmal erhob sich die Musik zu einem rasenden, 
sich überstürzenden Tempo; steiler richtete sich die Kobra empor, 
bis sie wie eine in die Erde gesteckte Lanze aufrecht auf ihrem 
Schwanzwirbel stand. 
Jäh, mit einer grellen Dissonanz brach das Flötenspiel 
ab, kraftlos, scheinbar total erschöpft, sank die Schlange in sich 
zusammen, und kaltblütig beförderte sie der Voghi, ihren Körper 
dicht hinter dem Kopf packend, wieder in den Kasten. 
Der Bann war gebrochen; schwatzend erhoben sich die 
Zuschauer, und auch ich drängte mich aus dem Kreise, um 
mein Kotel wieder aufzusuchen. 
Unterwegs dachte ich über das Gesehene nach. Es tat mir ! 
nicht leid, daß ich den Gauklern wie auch dem Voghi meinen 
Obulus geopfert hatte; denn die Vorführungen hatten mein 
ganzes Interesse erregt, wenn ich auch den Verdacht nicht los¬ 
werden konnte, daß diese braunen Gesellen mit irgendeinem 
Trick gearbeitet hatten, und daß der Kobra die Giftzähne längst ! 
ausgebrochen waren.
	        
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