Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1,1917)

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Aus der Vorgeschichte des Krieges 
deutsch, im Kulturgefühl wurde es von deutschen und französischen Einflüssen 
gespeist, in der politischen Denkart war es Frankreich verwandt und im 
Bau ein Stück Frankreichs geworden. 
Für Frankreich bedeutete aber die Abtretung Elsaß-Lothringens nicht 
nur eine Minderung an Macht und Volkstum, eine Einbuße an militärischer 
Kraft und eine Verschlechterung seiner Ostgrenze, sondern auch einen politi- 
schen Verlust (1).*) Die Tatsache, daß aus dem kunstvollen Gebäude des 
politischen Einheitsstaates ein Stück herausgebrochen worden war, erschien 
den Franzosen als eine Verletzung ihres Staatsideals. Dieser Gedanke 
belebte den Wunsch nach Wiederherstellung der alten Rheingrenze stets 
aufs neue und hat Frankreich nicht schlafen und es den Krieg von 1870 
nicht vergessen lassen. Das Bewußtsein dieses geschichtlichen Verlustes hat 
die Politik der französischen Republik während vierundvierzig Jahren 
unverrückbar bestimmt. Es gab Zeiten, da man den Verlust im Dunkeln 
ließ, Zeiten, in denen man ihn in Worte faßte und mit dem banalen Ruf 
„Revanche" über die Grenze sandte — verschmerzt war er nie. Dazu 
trat das brennende Gefühl, besiegt worden zu sein. Der französische 
Nationalstolz hat, abgesehen vom Verlust Elsaß-Lothringens, die Nieder- 
läge an sich nie verschmerzt und nie vergessen. 
Die französische Republik hat sich nach dem Kriege von 1870 trotz der 
unerhörten Opfer, die das Endringen gefordert hatte, rasch und kraftvoll 
wieder zur Löhe emporgeschwungen, hat Welt- und Machtpolitik getrieben, 
ungeachtet schwindender Volksfruchtbarkeit ein Kolonialreich von unbe- 
grenzter Entwicklungsfähigkeit errichtet, im Grund aber alles dem einen 
Leitgedanken dienstbar gemacht, dem Gambetta die denkwürdigen Worte lieh: 
„Bonjours y penser, jamais en parier.“ Gerade der Amstand, daß das 
napoleonische Frankreich im Jahre 1871 als Republik aus dem unglücklichen 
Krieg mit Deutschland hervorging, hat die Abtrennung Elsaß-Lothringens 
so tief empfinden lassen und der Revanchepolitik einen idealen Inhalt ge¬ 
geben. Nicht nur um Elsaß-Lothringens willen, sondern vielmehr weil die 
Republik — la république une et indivisible — sich dadurch in ihrer idealen 
Anverletzlichkeit gekränkt fühlte, hat Frankreich unentwegt die Loffnung auf 
die Wiedereroberung der beiden Provinzen genährt. Aus den Grundsätzen 
und Errungenschaften der großen Revolution leiteten die Franzosen auch 
ein moralisches Recht auf die Reichslande ab, deren politische Entwicklung 
durch den Leimfall an das Deutsche Reich zurückgeschnitten wurde und 
nur stockend nachwuchs. Solange die politischen Rechte der Elsaß-Lothringer 
geringer waren als die der französischen Staatsbürger — die völlige Ver¬ 
schiedenheit der Verhältnisse tat nichts zur Sache — und Elsaß-Lothringen 
nicht als neues, ebenbürtiges Glied in die Reihe der deutschen Bundesstaaten 
*) Siehe Anhang.
	        
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