Ware, überzeugte sich selbst, wie mühsam dieses Fa¬
brikat erzeugt werde. Jetzt erspart sich der Einkäu¬
fer jeden Anblick der mühsamen Anstrengung des
Fabrikanten. Er sitzt bequem im Einkaufszimmer,
kauft rohe Loden ein und läßt sie auf eigenen Na¬
men verfertigen. Dies kann nicht so weit ausgedehnt
werden, daß Individuen, zumal Israeliten, die eigen¬
mächtig den Standpunkt ihrer Handlung nicht än¬
dern dürfen, sich solche Rechte anmaßen.44 So be¬
quem, wie die Zunft es sich vorstellte, war die Wa¬
renmanipulation denn doch nicht. Die individuellere
Gestaltung der Ware und die Kalkulierung verur¬
sachten auch Denkarbeit und Mühe.
Eine weitere Ursache der Reibungsfläche zwischen
Zunft und Juden bildeten die Tuchträger. Diese, für
R. so charakteristische Erscheinung, ja eine Spezia¬
lität der Stadt, fand in den Augen der Zunft keine
Gunst. Sie bezeichnete die Tuchträger, die zumeist
urwüchsige Leute waren, als „den Urstoff von allen
Übeln'6. Diese Originale sind nun ausgestorben und
von diesen Gestalten kündet nur noch eine plastische
Nachbildung, ein Hauszeichen in der Lerchenfeld-
straße, das Werk des Bildhauers Kolaczek. Die Tuch¬
träger waren den Juden treu ergeben und erwiesen
ihnen wesentliche Dienste. Sie trugen die fertigen,
wie auch unappretierten Tuche auch in die Woh¬
nungen der Juden. Im übrigen führten sie auf dem
Platz vor dem ehemaligen „Deutschen Haus", der
heute noch den Namen „Tuchplatz" führt, das Zep¬
ter. Verkaufsstände und Ähnliches gab es nicht.
Hier wurden die Tuche über den Rücken der Tuch-
träger geschlagen, herumgezeigt, beschaut und be¬
gutachtet. Wiederholt verlangte die Zunft vom Ma¬
gistrate ihre Bestrafung, weil sie Juden Waren
bringen.
Auch der Historiker der Zunft, der Sekretär
der Tuchmachergenossenschaft Ludwig H ü b n e r,
ist nicht frei von Vorurteilen. Sowohl in seinem
Hauptwerke, das er anläßlich des 300jährigen Jubi¬
läums herausgab, „Geschichte der R. Tuchmacher-
zunftwie auch in seinen zahlreichen lokalgeschicht¬
lichen Aufsätzen, verleiht er seiner Abneigung gegen
das Judentum Ausdruck. Dem so verdienstvollen
Chronisten, der auch das städt. Archiv musterhaft
ordnete, fehlt ein tieferes Verständnis für die Zu¬
sammenhänge der Wirtschaft. Im Turmknopf der
Dekanalkirche ist ein von Hübner verfaßter Bericht
vom 10. August 1880 über die wichtigsten Ereignisse
jenes Jahres auf dem Gebiete der heimischen Wirt¬
schaft hinterlegt. Dieser Bericht, der die Unter¬
schrift der Verwaltungsmitglieder trägt, enthält Ver¬
unglimpfungen der jüd. Wollhändler und Tuchkauf-
leute. Im J. 1884 rief H. ein „Vigilance-Komitee"
ins Leben, dessen judenfeindliche Tendenz in die
Augen sprang. Da gab es Proteste auch seitens
christl. Firmen, Preßfehden, Spottgedichte und viel
Aufregung.
Die Zunft wurde von der Tuchmachergenossen¬
schaft abgelöst. Ein moderner Forscher stellt der
Reichenberger Tuchmachergenossenschaft ein Ehren¬
zeugnis aus. „Sie bildete mit ihren regen Bemühun¬
gen für die Mitglieder eine seltene Ausnahme in
ÖsterreichDie engherzige Sonderstellung weicht
einer freieren Auffassung, einem weiteren Horizont.
An Stelle des Handwerks tritt die Fabrik. Erblickte
ersteres im jüd. Kaufmann zu Unrecht einen Feind
und Hinderer, erkennt letztere in ihm den Freund
und Förderer.
Juden als Wollhändler.
Der jüd. Wollhandel war für das Wirtschaftsleben
Reichenbergs von geradezu zentraler Bedeu¬
tung. Bald nach Gründung der Zunft genügte nicht
mehr die Schafzucht Reichenbergs und der nachbar¬
lichen Herrschaften. Der Wollebedarf wurde immer
größer und der Rohstoff mußte aus größeren Ent¬
fernungen herbeigeholt werden. Die adeligen Herren
waren nicht gewillt, die Wolle den einzelnen Tuch¬
machern in kleineren Mengen abzugeben, es war
ihnen vielmehr erwünscht, sie in größeren Mengen
an wenige Käufer abzusetzen. Wenn wir auch aus
dem 17. Jht. nur wenig Nachweise dafür haben, so
genügen die Zeugnisse dennoch zur Erklärung der
Tatsache, daß gleichzeitig mit der Entfaltung des
Zunftgewerbes jüdische Händler für Deckung des
Wollbedarfes sorgten. Daß sie sich, wie Hübner be¬
hauptet, nach und nach jener Rohstoffquellen be¬
mächtigten, die früher die Tuchmacher selbst in den
Händen hatten, trifft nicht zu. Denn die Quellen
haben die Juden erst erschlossen. Schon Mitte des
18. Jhts. führt die Zunft beim Grafen bewegliche
Klage: „Bereits durch lange Jahr, nicht alleinig die
umliegende Judenschaft, sondern sogar die Prager
Juden Jeder Zeit die Woll in R. einführen." Im J.
1810 erstattete der Oberamtmann Markowsky der
gräfl. Herrschaft einen vertraulichen „gehorsamsten"
Amtsbericht. Unter anderem führt er darin aus: „Es
wäre freilich zu tvünschen, daß der so beträchtliche
Wollhandel R. nicht größtenteils in Händen der Ju¬
den sich befände. Der Unterzeichnete hat als Magi-
strats-Rat u. Zunftinspektor schon damals alles auf¬
geboten, diese Art von Monopol zu zer¬
stören und den Wollhandel aus den Händen der
Juden zu reißen. Es haben sich auch wirklich meh¬
rere einheimische Tuchfabrikanten mit vereinten Kräf¬
ten zum Wolleinkauf herbeigelassen, aber sie konn¬
ten mit den jüd. Wollhändlern, die noch größere Auf¬
opferungen sich gefallen ließen, die Konkurrenz
nicht aushalten." Die „größeren Aufopferungen6
waren es, die dem jüd. Wollhandel ihre herrschende
Bedeutung gaben, die alle Anstrengungen, ihn aus¬
zuschalten, zu nichte machten. Auf seine Verdrän¬
gung zielte auch das Vorkaufsrecht der Tuchmacher
hin, das wiederholt zugesichert und erneuert wurde,
wonach „allen Nationen, vor allen aber den Juden
gegenüber", der Vorkauf der Wolle auf den Märkten
garantiert sei. Auf Verwendung des Grf. Matthias
v. Gallas erklärte Kön. Ferdinand III. ausdrücklich,
daß das Vorrecht des Wollkaufs auch den Reichen¬
berger Tuchmachern zukomme.
Die Bedeutung des jüd. Wollhandels für den Rei¬
chenberger Platz mögen nur einige Zahlen illustrie¬
ren. Im J. 1779 —- so wird es in einer Eingabe der
Zunft ausgeführt — wurden in R, 36 076 Stück Tuch
erzeugt. Wenn die dazu erforderliche Wolle, der Leu¬
ten (d. i. Zentner) im Durchschnitt à 85 fi. gerechnet
wird (die Preise variieren zwischen 50 bis 250 f 1.), so
ergibt sich die Summe von 1,226.380 fl. Im J. 1797
wurden 35.594 Stück Tuche erzeugt, da betrug der
Wert der dazu erforderlichen Wolle von ungefähr
16.000 Zentnern 1,280.000 fl. Im J. 1826 wurden von
den Tuchmachern 16.886 Zentner, von den Fabrikan¬
ten 1883, zusammen 18.769 Zentner verbraucht. Preis
durchschnittlich à 80 fl., macht es im Ganzen
1,501.520 fl. aus21). 1832 wurden 52.400 Stück Tuche
erzeugt. Dazu war ein Wo'llbedarf von rund 28.000
Zentner nötig. 1852 wurden 36.000 Zentner Schaf¬
wolle verbraucht. Daraus wurden auf etwa 2000 Web¬
stühlen Tuche und Stoffe 30 bis 50 Ellen lang er¬
zeugt. Den Großteil der Wolle führten die Juden ein.
Auf der Stadtwage, jetzt ein Schaustück im nord¬
böhmischen Gewerbemuseum, damals aber das Wahr¬
zeichen von Alt-Reichenberg, mußte die Wolle ge-
35*
54?
Reichenberg 19