Volltext: Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I. (1 (1934) ;)

mußten. Im darauffolgenden Jahre sank die Seelen- 
zahl gar auf 27. Es tauchen mehrere neue Namen 
auf, wie Jakob Bauer, Moses und Abraham Budie, 
Markus und Wolf Reichmann. Neue Erschwerungen 
brachte das J. 1827. Da wurden für die „Israeliten44 
Aufenthaltsscheine eingeführt. Sie bildeten 
auch eine Einnahmsquelle für die Stadt. Der Handel¬ 
stand gibt noch im J. 1833 der Stadtbehörde die An¬ 
regung: „Man sollte die Juden zur Lösung eines Auf¬ 
enthaltsscheines nötigen, wodurch der Stadt ein nicht 
unbedeutendes Einkommen zufließen würde.4* Dem 
seit 10 Jahren in R. wohnhaften Simon Rothschieid 
wurde noch 1831 zur Last gelegt, daß er keinen Auf¬ 
enthaltsschein angefordert hatte. Ferner wurden 
auch Passierscheine für Fuhrwerke von 
Ä 
ovgtigcr 
/o ^ 
^araftec <* -</••»- 3 
teifet 
ecn biet: i 
mit fccm bti 
&tufrfuffcf}cr$ 
raittia ^.3^ 
Siefer vmm* ¡fi 
Son beri t @taM5aíit{mannf#áft 
^Jrag am 
m 
JA 
Passierschein für Fuhrwerke nach Reichenberg 
aus clem Jahre 1827. 
und nach R. eingeführt. Die Dauer der Giltigkeit 
dieser Passierscheine war sehr beschränkt. Endlich 
wurden auch die Paßbestimmungen wesentlich ver¬ 
schärft. 
Im J. 1830 ordnete der Magistrat an, „j^den unbe¬ 
kannten Juden sogleich, und wenn es auch auf 
der Straße wäre, bescheiden um seine Aufent¬ 
haltsbewilligung zu befragen und anzuhalten44. Bald 
darauf gab das Kreisamt sogar den Ukas heraus, 
sämtliche in R. sich zeitweilig aufhaltende Juden a b¬ 
zuschaffen. Der Magistrat gehorchte aber nicht 
wortlos dem Befehle dieser Behörde und bremste. Er 
berief sich auf die Verhältnisse des hiesigen Platzes, 
„wo der stete tägliche Wollbedarf der Tuchmacher, 
alle Juden, die den Wollhandel größtenteils in Hän¬ 
den haben, plötzlich abzuschaffen, nicht rätlich 
macht44. Es scheint, daß diese Maßregel nicht durch¬ 
geführt wurde; das Gewitter zog vorüber. Aber man 
fuhr fort, die Juden durch ein Vergrößerungsglas zu 
betrachten. Manche Ämter und Körperschaften 
waren förmlich bestürzt über die „große44 Zahl der 
Jaden in R. Während ein Kanzelist, der sich selber 
ein „expedierendes Individuum44 nannte, bloß die 
Forderung stellte, die Formulare durch die Juden 
vollständig ausfüllen zu lassen, waren die Polizei¬ 
kommissäre weniger harmlos, als diese Bureaukraten- 
seele. Sie stellten an den Magistrat das Ersuchen, den 
Juden den Aufenthalt in R. überhaupt zu verbieten. 
„Die meisten der hier wohnenden Juden werden 
gewiß ihre Quartiere ganzjährig gemietet haben, weil 
sie sich das ganze Jahr immerfort hier aufhalten.44 
Selbstverständlich sollten auch die Hausherren be¬ 
straft werden. Die Polizeikommissäre haben sich 
diesmal etwas ganz besonderes ausgeklügelt. Wegen 
der Choleragefahr wird man geeignete Wohnungen als 
Krankenhäuser einrichten. Evakuierte Bewohner wer¬ 
den aber obdachlos werden, weil viele Quartiere von 
Juden besetzt sind. Das Rathaus ging aber auf diese 
etwas rabulistischen Gedankengänge nicht ein. Auch 
der Handelsstand lief Sturm. Auch er gebraucht in 
einer Beschwerde die sattsaim wiederholte Phrase von 
der „großen Menge44 der Juden und beschwört den 
Magistrat, dessen „größte Sorge es sein muß, den 
Bürger in seinen Rechten (?) zu schützen, ihn gegen 
die nachteiligen Unfüge (!) der Israeliten und Stö¬ 
rungen des Handels zu verwahren44. Der Magistrat 
jedoch beachtete nicht diese Vorschläge. Er duldete 
ein ,S tilleben44. Anfang der 30er Jahre errichteten 
zwei Prager jüd. Firmen Baumwollwebereien in R.: 
I. L. Lieben und Philipp Tandler. Während alle 
übrigen 18 Fabrikanten, Tandler mit eingeschlossen, 
jährlich zu 3 fl. C. M. an Steuer zahlten, waren I. L. 
Lieben 15 fl. C. M. vorgeschrieben. 
So nahte das Sturmjahr 1848 heran. Es ging auch an 
R. nicht spurlos vorüber. Eine Ausschreitung gegen 
Juden kam in R., wie Hübner es irrtümlich be¬ 
hauptet, nicht vor. Gegen wen hätte sich auch ein 
solches Exzeß wenden sollen? Es gab ja damals in R. 
vermutlich nur eine ganz geringe Zahl jüd. Fami¬ 
lien. Die Judenfrage bewegte auch in R. die Ge¬ 
müter. Der „politische Verein44 zählte wenige Mit¬ 
glieder, aber sie wurden nicht bloß gezählt, sondern 
auch gewogen. Denn die geistige Elite der Stadt ge¬ 
hörte ihm an. Er hielt sehr häufig Sitzungen ab. Es 
wurde viel Vereinsmeierei getrieben, dabei gab sich 
aber auch viel ernstes Streben kund, der Zeitprobleme 
Herr zu werden. Schön war das Vereinsmotto: „Über 
Prinzipien, aber nicht über Personen zu verhandeln.44 
Auch die Judenfrage wurde einigemal, und zwar 
durchaus im liberalen Geiste jener Zeit erörtert. Ein 
in dem „Grenzboten44 unter dem Titel „Theaterjuden44 
erschienener Aufsatz, sowie ein aus Manchester 
an den Verein gerichtetes Schreiben über die Gleich¬ 
stellung der Juden wird verlesen. Der erste Obmann 
des Vereines, der auch dessen Seele war, Aug. 
Uchatzy, hielt einen Zyklus von Vorträgen über die 
Judenemanzipation. Er knüpfte daran Schlußbemer¬ 
kungen, die allem Anscheine nach für die Juden 
günstig waren. Der Inhalt seiner Vorträge ist im Ver¬ 
handlungsbuche nur ganz flüchtig skizziert. Nach 
Uchatzy beginnt die Unterdrückung der Juden mit 
dem Siege des Christentums als Staatskirche. Er 
schilderte ihre früheren Freiheiten und wie sie dann 
nach und nach entrechtet wurden. So befindet sich 
diese „unglückliche Nation44 bis aus unsere Zeit im 
steten Kampf mit den übrigen Weltbewohnern. An 
den Vortragszyklus knüpfte sich eine Debatte, an der 
sich mehrere Bürger, besonders Apotheker Hlasiwetz, 
beteiligten. Ein Beschluß wurde nicht gefaßt. Aber 
die Diskussionsredner traten für die restlose Durch¬ 
führung der Judenemanzipation ein, für die sie ver¬ 
schiedene Vorschläge unterbreit et en. Auch in der 
ersten Reichenberger Zeitschrift, deren erste Num¬ 
mer am 1. April 1848 erschien, in den „Wochen¬ 
berichten aus Nah und Fern44, wird hin und wie¬ 
der die Judenfrage berührt. Es ist interessant, daß 
ein mit H. gezeichneter Artikel, den ein Jude (wahr¬ 
scheinlich Dr. Hamburger, ein fleißiger Mitarbeiter 
fìeichenberg 12 
540
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.