Volltext: Steins Geschichte des Weltkriegs

nach halbstündigem Verhör wurde uns gestattet, nach Holland abzureisen. Ich durste 
meine Frau und meinen älteren Sohn mitnehmen. Mein jüngstes Kind, einen achtzehn 
Monate alten Knaben, der bei einem belgischen Gendarm in Pflege war, mußte ich 
trotz aller Bitten zurücklassen. In Holland wurden wir vorzüglich aufgenommen und 
verpflegt." 
Der „Kölnischen Zeitung" berichtet ein Deutscher aus Brüssel, der am Abend 
des 3. August bis Lüttich gelangt war und dort keinen Platz mehr in einem Zug zur 
Grenze erhalten hatte: „Wir mußten die Nacht in Lüttich verbleiben, wo ein großes 
militärisches Treiben herrschte. Am andern Morgen faßte ich noch einen, nur aus 
Vieh- und Güterwagen bestehenden, schon vollständig gefüllten Zug. Ich fand mit 
Frau und Kind nach vieler Mühe Platz, und so rollten wir der holländischen Grenze zu. 
Links und rechts von der Bahn konnten wir beobachten, wie von belgischem Militär 
Wälle und sonstige Festungsarbeiten aufgeworfen wurden. Das Elend in dem Wagen, 
in dem ich mich befand, war unbeschreiblich. Da war eine Frau mit Zwillingen von 
zehn Monaten, die direkt von der Küche fortmußte, und deren Mann sich schon freiwillig 
als Reservist gestellt hatte. Die armen Kinder hatten nichts zu essen, denn die Zeit 
fehlte, um das Nötigste mitzunehmen. Ein neben mir sitzender Herr, der 
seit dreißig Jahren in Lüttich ansässig ist, und dessen beide Söhne in 
der Bürgerwehr dienen, mußte sein Geschäft, ein Metzgergeschäft, im 
Stich lassen und sofort alles verlassen. So kamen wir zur Station Lanaken, 
nahe der holländischen Grenze. Hier mußten wir aussteigen, mit Frau und Kind, mit 
Hab und Gut, und unter dem Schutz der uns umzingelnden belgischen Gendarmen 
wurden wir wie Zigeuner bis zur holländischen Grenze geführt. Zum Glück hatte sich 
ein Bauer bereit erklärt, auf seinem Heuwagen das mehr oder weniger große Gepäck 
bis zur Grenze zu fahrm. An der holländischen Grenze wurden wir von Gendarmen 
empfangen, die uns bewachten, da wir mit einer Kleinbahn, die in gewöhnlichen Zeiten 
nach Maastricht fährt, nach letzterem Ort befördert werden sollten. Wir blieben über 
zwei Stunden auf der Landstraße liegen, und schließlich stellte es sich heraus, daß diese 
Kleinbahn nicht mehr nach Holland hineinfuhr, worauf die Gendarmen auf dem Zwei¬ 
rad in Maastricht die nötigen Wagen herbeiholten. So kamen wir denn schließlich 
nach vielen Entbehrungen und mit hungrigem Magen an den Eingang der Stadt 
Maastricht, wo uns Tausende und Tausende anderer Flüchtlinge erwarteten und wir 
alle zusammen durch die Stadt hindurch nach dem Bahnhof wanderten. Der Empfang, 
der uns zuteil wurde, ist über alle Maßen zu loben. Die Frauen standen links und 
rechts auf der Straße und vergossen Tränen über das Elend, das sie mit ansahen. Am 
Bahnhof boten uns mildtätige Damen Kaffee, Tee, Schokolade, Milch, belegte Bröt¬ 
chen und anderes, überhaupt alles, was man eben Flüchtlingen bieten konnte. Überall 
fand man hier nur Teilnahme. Es ist mir Bedürfnis, den Einwohnern von Maastricht 
ein ganz besonderes, wohlverdientes Lob zu spenden. Von Maastricht aus wurden 
wir bis nach Wylre befördert, wo uns ein Abgesandter des deutschen Konsuls in Emp- 
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