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reichs aufzuweisen hatte. Eine Reihe von Umständen hat dazu
beigetragen. Die Tradition der Milde und Toleranz, welche Strafs-
burgs Obrigkeiten im ganzen Mittelalter ausgezeichnet hatte, war
in den Ratsherren des 16. Jahrhunderts lebendig geblieben, ja es
hat wohl niemals früher ein Mann den kurulischen Stuhl der
Stadt eingenommen, der in gleichem Mafse wie der damalige
Ratsoberste Jacob Sturm von Sturmeck Einsicht mit Güte in sich
vereinigt, in gleichem Mafse wie dieser ein strammes Regiment
mit fortschrittlichem Sinne verbunden hätte.
Selbst die Prediger Strafsburgs waren aus anderem Holze ge
schnitzt, als die der übrigen deutschen Städte, Luther und Zwingli
nicht ausgenommen. Denn während sich allerorten das durch
das Beispiel Luthers begünstigte rechthaberische, ja gewaltthätige
Vorgehen der reformatorisch gesinnten Machthaber in nichts von
dem Zelotismus der katholischen Priesterschaft unterschied, haben
Bucer, Capito und Zell, die Reformatoren Strafsburgs, eink Weit
herzigkeit in der Auffassung religiöser Ideen und kirchlicher Zu
stände zur Schau getragen, die noch heute unser Erstaunen
erregt.
Insbesondere suchten sie die aus den Täuferkreisen hervor
gegangene Opposition durch privaten Zuspruch und öffentliche
Disputationen, durch persönlichen Umgang und liebevolles Ent
gegenkommen zu gewinnen, und erst als diese Mafsregeln erfolg
los geblieben waren und das allzu tumultuarische Vorgehen ex
centrischer Rappelköpfe den religiösen Frieden der Bürgerschaft
zu untergraben und die Ruhe der Stadt ernstlich zu gefährden
drohte, rieten sie dem Rate nicht etwa zur Hinrichtung der Un
verbesserlichen, sondern zu deren Entfernung aus dem Weichbilde
der Stadt. Wie weit ihre Toleranz in Glaubenssachen ging, mag
daraus entnommen werden, dafs Bucer in der Schrift: Grund und
Ursach der Neuerungen in der Gemeinde zu Strafsburg vom
26. Dezember 1524 schreibt: „Die blofse Wassertaufe macht nicht
seelig, sondern allein die geistliche Taufe Christi, welche durch
jene bedeutet wird. Wo Jemand mit der Taufe warten will und
solches bei denen er wohnt, ohne Zerstörung der Lieb und Einig
keit erhalten kann, wollen wir uns darum mit ihm nicht zweyen,
noch ihn verdammen, ein Jeder sei seines Sinnes gewifs. Das
Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, also auch nicht der
Wassertauff, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im
heiligen Geist.“