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IV. Deutschland
Deutschland ist auch das Mutterland und der Lahnbrecher der „Kr-
beitergesetzgebung". Die Hoffnung, auf diesem Wege der staatsfeind-
lichen Lewegung Herr zu werden, wurde jedoch zuschanden. Nach
Aufhebung des Ausnahmegesetzes ist die sozialdemokratische Partei
ununterbrochen vorwärts geschritten — mit einem einzigen rela¬
tiven Rückschlag bei der Reichstagswahl 1907, wo sie sich zu un>
vorsichtig an dem Großmachtswillen der Nation vergriff —, so daß
sie heute, nach der Wahl von 1912, die stärkste Reichstagspartei ist
(mit 110 von 397 Plätzen und 4V* Millionen Wählern).
Diese bevorzugte Stellung einer Partei, die der erklärte Feind
der bestehenden Gesellschaft ist, ist gewiß dazu geeignet, ernste Le»
fürchtungen für die Zukunft hervorzurufen. Ohne Zweifel spiegelt
sich hier eine bedenkliche Schwäche des jetzigen Zustandes wider. Zwei
Gesichtspunkte jedoch vermögen die Auffassung zu mäßigen. Auf der
einen Seite darf man die hohe Stimmenzahl nicht ungekürzt dem
reinen Sozialismus zugute schreiben,' sie rührt von bürgerlichen Krei¬
sen her, die aus verschiedenen Gründen unzufrieden sind und nicht
am wenigsten über den im sozialen Leben Deutschlands noch immer
und überall bestehenden Rastengeist aus einer älteren Zeit. Auf der
anderen Seite ist die Sozialdemokratie in einer inneren Umwandlung
begriffen, die mit ihrer äußeren Machtzunahme gleichen Schritt hält,
eine Umwandlung von einem revolutionären zu einem „revisionisti¬
schen" Programm. Sie erkennt ihre Grenzen nicht nur in der Rlug-
heit und der Macht des Staates, sondern vor allem in dem Charak¬
ter des Volkes, in dem sie ihre Propaganda treiben will. Durch die
Erfahrung von 1907 gewitzigt, hat sie ihren internationalen Cha¬
rakter immer weniger betont. Die Sozialdemokraten Deutschlands
ebenso wie die Italiens zeigen nunmehr einen Grad nationaler So-
lidarität, auf welche die Franzosen (B a u d i n 1912) mit Recht neidisch sind.
wenn aber der rote Flügel in der deutschen Gesellschaft stark ent¬
wickelt ist, so ist es der schwarze nicht minder. Dieser beruht auf einer
Spaltung, der wir bei unseren bisherigen Untersuchungen noch nicht
begegnet sind, nämlich der konfessionellen zwischen Protestanten und