Volltext: Nach hundert Jahren

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Schon während der ersten Stunden der Schlacht wurde der Herzog von Braun¬ 
schweig tödlich verwundet; das preußische Heer blieb in den entscheidenden 
Augenblicken ohne Leitung, da der König weder selbst den Oberbefehl zu über¬ 
nehmen wagte, noch einen anderen Befehlshaber ernannte. Wohl drang 
Scharnhorst mit dem linken Flügel siegreich vor und glaubte schon die Ehre 
des Tages gerettet zu haben; doch die Reiterei des rechten Flügels ward un¬ 
geschickt verwendet und das zweite Treffen unter Kalckreuth nahm an dem 
Kampfe gar nicht teil, denn in diesem Friedensheere wagte kein General auf 
eigene Faust zu handeln. So glückte es dem Feinde, freilich nur mit dem 
Aufgebot seiner letzten Reserven, den rechten Flügel der Preußen zu werfen, 
und nunmehr mußte auch Scharnhorst weichen. In leidlicher Ordnung ging 
das Heer zurück, um weiter westlich bei Büttstedt gegen Norden abzubiegen 
und den Weg über Sangerhausen nach Magdeburg einzuschlagen. Dieselbe 
Rückzugsstraße hatte auch Hohenlohe von Weimar aus genommen, und jetzt 
erst, da die beiden geschlagenen Heere im Dunkel der Nacht aufeinander¬ 
trafen, ward der Schrecken allgemein und die Hauptarmee in die Zerrüttung 
des Hohenlohe'schen Korps mit hineingerissen. Die Mannschaft sah stumpf und 
teilnahmslos den Untergang des alten Preußens; scharenweise verließ sie die 
Fahnen, selbst Gefangene, die ein beherzter Reitertrupp wieder befreit hatte, 
weigerten sich, die Waffen wieder aufzunehmen. Als man der Heimat näher kam, 
stahl sich auch mancher treue Mann zu den Seinigen hinweg; die Altgedienten 
sagten: ich habe lange genug den Kuhfuß getragen, der König hat der jungen 
Burschen genug, die mögen es ausfechten! Der Zauber der friderizianischen 
Unbesiegbarkeit war gebrochen, ein Kriegsruhm ohnegleichen war verloren. 
Schon am 15. Oktober legte Napoleon allen preußischen Provinzen dies¬ 
seits der Weichsel eine Kontribution von 159 Millionen Franks auf, denn das 
Ergebnis der gestrigen Schlacht sei die Eroberung aller dieser Lande. Ver¬ 
messener hatte der Glückliche noch nie geprahlt, und doch sollte die frevelhafteste 
der Lügen durch ein wunderbares Geschick zur buchstäblichen Wahrheit werden. 
Auch die Reservearmee erlitt bei Halle eine Niederlage und da sie nach 
Magdeburg zurückwich, statt die Hauptstadt zu sichern, so konnte Napoleon un¬ 
gehindert seinen Siegeszug nach Berlin fortsetzen. Furchtbar rächte sich nun der 
selbstgefällige Hochmut der bequemen Friedenszeiten. Keiner der festen Plätze 
war gerüstet, denn niemand hatte das Vordringen des Feindes bis in das 
Herz der Monarchie für denkbar gehalten. 
Mancher der abgelebten, alten Festungskommandanten war in den jungen 
Jahren ein wackerer Offizier gewesen, doch ihr Pflichtgefühl entsprang nicht 
der Vaterlandsliebe, sondern dem Standesstolze; das Heer war ihnen alles, 
erfroren im steifen Dünkel erwarteten sie gelassen den unfehlbaren Sieg der 
friderizianischen Regimenter. Als nun die sinnverwirrende Kunde von der 
Niederlage durch das Land flog, als die elenden Trümmer dieses unüber¬ 
windlichen Heeres in Magdeburg anlangten, die ganze Stadt mit Schrecken 
und Verwirrung füllend, da ward den alten Herren zu Mute, als ginge die 
Welt unter; jeder Widerstand schien ihnen nutzlos, was ihrem Leben Halt 
gegeben, war zerbrochen. Nach dem Falle von Erfurt, das sogleich nach der 
Schlacht schimpflich kapitulierte, öffneten bald auch die Hauptfestungen des alten 
Staates, Magdeburg, Küstrin, Stettin, und mehrere kleine Plätze ihre Tore. 
„Welch ein Modergeruch der sittlichen Fäulnis", schrieb der Zeitgenosse 
Wilhelm Bauer in flammender Entrüstung, „schlägt uns aus den Festungen 
entgegen, die ohne Schwertstreich den Feinden überliefert wurden! Magdeburg, 
der festeste Wall des Reiches, wird von dem alten Kleist mit 24.000 Mann,
	        
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