Volltext: Der Völkerkrieg Band 13 (13 / 1918)

D i e achte Kriegstagung des deutschen Reichstags I. 35 
Ich kann weiter feststellen, daß die neue Lesart ausschließlich von Lord Grey aufgebracht wird. 
Die russische Regierung selbst, die doch am besten über die Gründe ihrer Mobilmachung unterrichtet 
sein mußte, ist niemals auf den Gedanken gekommen, sich für ihren verhängnisvollen Schritt auf 
das Extrablatt des „Lokalanzeigers" zu berufen. Lord Grey wird, wie ich annehme, den Zaren als 
Zeugen nicht ablehnen wollen. Der Zar hat noch am Freitag, dem 31. Juli 1914, 2 Uhr nachmittags, 
als die Mobilmachungsorder an die sämtlichen russischen Streitkräfte bereits ergangen war, an 
Seine Majestät den Kaiser auf dessen letzten Friedensappell telegraphiert: „Es ist technisch unmöglich, 
unsere militärischen Vorbereitungen einzustellen, die durch Oesterreich-Ungarns Mobilisierung not 
wendig geworden sind." KeinWort vom „Lokalanzeiger", keinWort von einer deut 
schen Mobilmachung! 
Nur beiläufig erinnere ich daran, daß auch der Hinweis des Zaren auf die angebliche Mobilisie 
rung Oesterreich-UngarnS keinen Grund für die russische allgemeine Mobilmachung abgeben konnte. 
Oesterreich-Ungarn hatte zu der Stunde, als die allgemeine Mobilmachung in Rußland angeordnet 
wurde, lediglich 8 Armeekorps angesichts des Konflikts mit Serbien auf Kriegsfuß gesetzt, und Ruß 
land hatte diese Maßnahme bereits am 29. Juli mit der Mobilmachung von 13 Armeekorps beant 
wortet. Seit dem 29. Juli waren von österreichisch-ungarischer Seite keine weiteren militärischen 
Maßnahmen ergriffen worden, die Rußland irgend eine Veranlassung zu der der Kriegserklärung 
gleichkommenden allgemeinen Mobilmachung in Rußland hätte geben können. Erst nachdem die all 
gemeine Mobilmachung in Rußland erfolgt war, ist Oesterreich-Ungarn — am Vormittag des 
31. Juli — auch seinerseits zur allgemeinen Mobilisation übergegangen. 
Wir unsererseits haben selbst dann noch Langmut undGeduld geübt bis zur 
äußersten Grenze der Rücksicht auf unsere eigene Existenz und der Verpflich 
tung gegenüber unserem Bundesgenossen. Wir hätten ja schon am 29. Juli, als Ruß 
land gegen Oesterreich mobilisierte, auch unsererseits mobilisieren können. Der Wortlaut unseres 
Bündnisses mit Oesterreich-Ungarn war bekannt. Niemand hätte unsere Mobilisation als eine aggres 
sive bezeichnen können. Wir haben eS nicht getan. Aber auch auf die Nachricht von der russischen 
allgemeinen Mobilmachung haben wir zunächst nur mit der Verkündigung des Zustandes der drohenden 
Kriegsgefahr geantwortet, die noch nicht Mobilmachung bedeutet. Wir haben das der russischen Re 
gierung mitgeteilt und hinzugefügt, daß die Mobilmachung folgen müsse, falls nicht Rußland binnen 
12 Stunden jede Kriegsmaßnahme gegen uns und Oesterreich-Ungarn einstelle und uns hierüber 
bestimmte Erklärung abgäbe. Wir haben damit Rußland, selbst als das Schicksal des Krieges durch 
seine Schuld bereits unabwendbar schien, noch einmal eine Frist gegeben, sich zu besinnen und im 
letzten Augenblick den Weltfrieden noch zu retten. Wir haben auch Rußlands Verbündeten und 
Freunden durch diesen Aufschub im letzten Augenblick noch einmal die weltgeschichtliche Möglichkeit 
gegeben, auf Rußland zugunsten des Friedens einzuwirken. Es war umsonst. Rußland ließ uns 
ohne Antwort. England verharrte gegenüber Rußland in Schweigen. Frankreich leugnete durch 
den Mund seines Ministerpräsidenten gegenüber unserem Botschafter noch am Abend des 31. Juli 
die Tatsache der russischen Mobilmachung einfach ab und verfügte seine eigene Mobilmachung einige 
Stunden früher, als wir unsererseits zur Mobilmachung schritten. 
Was übrigens den angeblich defensiven Charakter der russischen Gesamtmobilmachung betrifft, so 
will ich hier ausdrücklich feststellen, daß bei Ausbruch das Krieges 1914 noch eine im Jahre 1912 
erlassene allgemeine Anweisung der russischen Regierung für den Mobilmachungsfall in Kraft war, 
die wörtlich folgende Stelle enthält: „Allerhöchst ist befohlen, daß die Verkündung der 
Mobilisation zugleich die Verkündung des Krieges gegen Deutschland ist." 
Gegen Deutschland, meine Herren! 1912 gegen Deutschland! (Diese russische Mobil 
machungsanweisung vom 30. September 1912 ist im Wortlaut in der „Norddeutschen Allgemeinen 
Zeitung" (11. XI. 16) veröffentlicht worden.) 
ES ist unerfindlich, wie angesichts dieses aktenmäßigen Tatbestandes Lord Grey der Welt und 
seinem eigenen Lande mit der Geschichte von dem Manöver kommen kann, mit dem wir dem fried 
fertigen Ruffen die Mobilmachung gegen seinen Willen durch plumpe Täuschung über unsere eigenen 
Maßnahmen entlockt hätten! Nein, meine Herren, die Wahrheit ist: Nie und nimmer hätte 
Rußland den Entschluß zu dem verhängnisvollen Schritt gefaßt, wenn es 
nicht von der Themse her durch Handlungen und Unterlassungen zu diesem 
Schritt ermutigt worden wäre.
	        
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