Volltext: Der Völkerkrieg Band 13 (13 / 1918)

264 Rußland während des fünften Kriegshalbjahres 
„ein Telegramm Stürmers, und in Turkestan und in den Gebieten der Kirgisen begann 
die Einberufung der Fremdstämmigen mitten in der Arbeitsperiode, gegen den Ukas 
des Zaren, unter offenstchtlicher Verletzung seines Sinns, ohne irgend welche Hinweise 
auf die Art der Durchführung. Das Ergebnis waren ernste und schwere Unruhen in diesen 
Gebieten und der Verlust der Arbeitskräfte für die Ländwirtschaft* (ogl. S. 259). Aehnlich 
ging es mit der Einstellung Kriegsgefangener in der Landwirtschaft; kaum waren die 
Leute an ihren Bestimmungsorten eingetroffen, als sie schon wieder weggeholt wurden. 
Dieselbe Zickzack-Politik war auch in der Frage der Höchstpreise zu beobachten. Mit 
Mühe kämpfte Naumow um die Festsetzung von Höchstpreisen, aber kaum war er im 
Begriffe, sie wirklich durchzuführen, als er schon von Bobrinski verdrängt wurde. Dieser 
„ungelehrige und altersschwache Herr" war nur mit großer Mühe von der Notwendig 
keit von Höchstpreisen zu überzeugen. Während dieser Zeit stockte der ganze Handel, 
da niemand wußte, was der nächste Tag bringen würde. Als dann endlich Höchstpreise 
festgesetzt waren, erklärte Bobrinski sofort, es sei nicht ausgeschlossen, daß sie wieder 
abgeändert würden, wodurch die Unsicherheit neuerdings um sich griff. 
Ueber den sogenannten „Kampf der Ressorts*, der einige Zeit zwischen Bobrinski und 
Protopopow wegen der Oberleitung der Versorgungsfrage geführt wurde (vgl. S.235), äußerte 
sich Schingarew sehr skeptisch. Graf Bobrinski, erklärte Schingarew, wünschte selber die 
Versorgungsfrage loszuwerden und nur sein Ministerium und der Ministcrrat, die beide 
vor dem aufgehenden Sterne Protopopows Angst hatten, verhinderten den Grafen daran. 
In der Budgetkommission der Reichsduma erschienen dann die beiden Minister und 
hielten stark widersprechende Reden; Protopopow äußerte sich sachlich über die Organisa 
tion des Lebcnsmittelhandels, Bobrinski aber widersprach ihm, wozu er von der Büro» 
kratie angeregt worden war, ohne jedoch einen bestimmten eigenen Plan aufzustellen. 
„Die besondere Beratung über das Versorgungswesen" hatte schließlich, allen Schwierig 
keiten zum Trotz, einige Regeln aufgestellt, von deren Ausbau man eine gewisse Besse 
rung im Lebensmittelhandel erwarten durfte. Da man dabei in die eigentlich den ge 
setzgebenden Kammern vorbehaltenen Gebiete eingreifen mußte, schien die Veröffentlichung 
dieser Anordnungen in der „Sammlung der Gesetze und Regierungsverordnungen* 
unerläßlich. Kaum aber hatte der Senat ihre Veröffentlichung angeordnet, so erließ 
Bobrinski telegraphisch chiffrierte Anordnungen, um ihre Durchführung sofort zu ver 
hindern; der Grund war seine Furcht, die in den Verordnungen vorgesehenen Kreis- 
und Wolostausschüsse möchten eine Revolution vorbereiten. An dieser ewigen und 
unausrottbaren Angst der russischen Bürokratie vor jeder Art von Organisation der 
außerhalb ihres unmittelbaren Machtbereichs stehenden Kräfte ist also die Organisation 
des russischen Lebensmittelmarktes gescheitert." 
Die Folge dieses verlotterten Verwaltungsapparates, dann aber auch der riesigen 
Ueberhandnahme der Spekulation und der planmäßigen Zurückhaltung der verkäuflichen, 
für die Lebenshaltung notwendigen Gebrauchsgüter war empfindlicher Mangel und 
drückende Not, obwohl gerade z. B. Brotgetreide und Zucker ureigenste Produkte Ruß« 
lands sind. Während ein Pfund Zucker früher für 13 bis 16 Kopeken zu haben war, 
nahmen Wucherer für dasselbe Quantum nun bis 2 Rubel. 
Auch Fleisch, Butter, Milch, Käse usw. — sonst die gewöhnlichsten Nahrungsmittel 
auch der breiten Massen der Bevölkerung — waren nach einem Bericht der „Neuen 
Zürcher Zeitung" (18. u. 19. XII. 16) aus dem gewöhnlichen Handelsverkehr so gut 
wie verschwunden, die Preise daher Io in die Höhe getrieben, daß ärmere Bevölkerungs 
schichten sie nicht mehr erstehen tonnten. Und als wöchentlich vier fleischlose Tage 
angeordnet wurden, führte das nur zu einer Verteuerung aller übrigen Lebensmittel, 
die sofort um 20 bis 100 °/ 0 stiegen. Die Milch — sonst für 6 bis 8 Kopeken per Stoof
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.