230 Rußland während des fünften Kriegshalbjahres
so daß die Flucht in die Oeffentlichkeit die einzige Rettung sei. Er erhebe gegen die Regie
rung die schwere Beschuldigung, daß sie Strömungen unterstütze, die für einen sofortigen
Frieden sind. „Blickt heute auf das Volk — überall ist die Kriegslust gänzlich ver
schwunden. Das russische Volk will gebieterisch Frieden um jeden Preis. Aus den
Friedensbestrebungen datiert dieser verhängnisvolle Haß aus England, der sich in allen
großen Städten in lärmenden Demonstrationen entlud. Woher dieser Haß? Klare
Anzeichen liegen vor, daß er an jenen Stellen gesät wurde, von denen alle Mißgunst
und Zwietracht ausgeht. Ich erhebe gegen die Regierung die schwere Anklage, daß sie
eine Politik zu beenden außerstande ist, die sie selbst begonnen hat."
Die Kriegszieldebatte wurde dann durch den lettischen Abgeordneten Goldmann,
Vertreter des kurländischen Gouvernements, weitergesponnen, welcher sagte: „Mit großer
Bestimmtheit kursieren Gerüchte, daß die Regierung bereit wäre, wenn es zum Frieden
käme, Kurland abzutreten, eine Forderung, die apodiktisch von allen deutschen Politikern
erhoben werde." Er erhebe Protest gegen diese Behauptungen. Rußland könne Kurland,
wo die deutsche Bevölkerung nur 5 % ausmache, nicht entbehren. Gewiß, die Dardanellen
srage sei wichtig, aber das Baltische Meer sei viel unentbehrlicher.
Der Jude Friedmann wandte sich gegen die von der Regierung trotz der Errichtung
einiger neuer Universitäten aufrechterhaltene Beschränkung der Juden und die auch in
der neuen russischen Städteordnung bestehende Judenbeschränkung, während der Vertreter
der muselmanischen Fraktion, Dschafarow, verlangte, daß ebenso wie die russische
Armee für die Befreiung der außerhalb Rußlands lebenden Völker kämpfe, auch den
innerhalb Rußlands lebenden Völkern die Freiheit verkündet werde.
Von der Schlußrede des Kadetten Maklakow, die nach der gesamten liberalen Presse
einen lebhaften Eindruck machte, ließ der Bericht nur die Worte übrig:
„ES ist für niemand ein Geheimnis, daß an der Front alles gut geht, daß die Produktion unserer
Munitionsfabriken jeden Monat wächst und die KriegSmüdigkeit Deutschlands stet- augenscheinlicher
wird. Trotzdem stehen wir vor einer großen Gefahr. Diese besteht nicht in der LebenSmittelkrisiS,
die wir mit vereinten Kräften bekämpfen werden, sondern darin, daß in Rußland ein Umschwung
in der Stimmung sich vollzogen hat und Strömungen aufgekommen sind, die einigen die Kühnheit
geben, von Frieden zu sprechen." Nirgends bestehe mehr der feste Wille, durch den Krieg politische
Ziele zu erreichen. Die verzweifelte Losung sei in aller Munde: „Je schlechter es an der Front
geht, desto besser — denn dann kommt der Frieden!"
Kurz nach der Eröffnung der Sitzung hatte der Vizepräsident der Duma, Warun-
Sekr et, die Erklärung abgegeben, daß er sein Amt niederlege, weil Miljukow bei seiner
Rede in der Eröffnungssitzung in deutscher Sprache eine Stelle aus einer deutschen Zeitung
verlesen habe. Die betreffende Stelle, die sich aus eine Person bezog, die in der Duma
nicht genannt werden und nicht beurteilt werden dürfe, sei von ihm nicht verstanden und
erst später, als die Uebersetzung vorlag, aus dem amtlichen Stenogramm der Duma aus
geschieden worden. Und vor Schluß der Sitzung erklärte der Dumapräsident Rodzianko:
Weder er selbst, sagt er mit erhobener Stimme, noch das Dumapräsidium als solches
trage die Schuld, daß der Bericht der ersten Sitzung nur mit großen Lücken publiziert
werden durste und der Bericht der zweiten Sitzung voraussichtlich gar nicht zur Ver
öffentlichung zugelassen werden würde. Das Verbot erfolge durch von der Duma gänzlich
unabhängige Umstände.
In der Sitzung der Duma vom 17. November wurde zunächst Rodzianko zum Prä
sidenten der Reichsduma wiedergewählt. Dann gaben der Kriegs- und der Marineminister
außerhalb der Tagesordnung Erklärungen ab, die von der gesamten Duma mit leb
hafter Begeisterung aufgenommen wurden. Der KriegsministerSchuwajew sagte:
„87 Monate dauert der blutige und grausame Weltkrieg. Unser vielgeliebter Herrscher hat diesen
Krieg nicht gewünscht und seinen AuSbruch nicht gewollt. Wir wißen alle, daß weder der