228 Rußland während des fünften Kriegshalbjahres
lichen Stimmung," und hebt dann hervor, daß die Regierung, statt die vom Block längst
vorausgesagten Gefahren abzuwenden, die Gesetzgebung durch Maßnahmen auf Grund des
Ausnahmeparagraphen 87 nur erschwerte, obwohl dazu weder Eile noch Nötigung vorlag.
Der Führer der polnischen parlamentarischen Gruppe, Haruszewitz, verlas eine Er
klärung gegen die Proklamation der Mittelmächte über Polen (vgl. S. 224 u. 225), der
das polnische Volk nicht zustimmen werde, und die nur einen Zwist zwischen Rußland und
seinen Alliierten hervorzurufen suche, um in den Augen der zivilisierten Welt die em
pörenden Rekrutierungen zu rechtfertigen. Erschloß: »Wir sind sicher, daß das polnische
Volk in dieser tragischen Lage nicht verlassen sein wird, daß das Vorgehen der deutschen
Kaiserreiche nicht ohne Nachwirkung bleiben wird, daß Rußland und die alliierten Mächte
vor der Welt Einspruch erheben werden und daß die polnische Frage in ihrer Gesamt
heit gelöst werden wird." Professor Lewaschoss, der Vertreter der äußersten Rechten,
griff die Regierung an, weil sie nicht energisch genug gegen die letzten Reste der deutschen
Gewaltherrschaft in den Landwirtschaftsgebieten Rußlands vorgehe. Ueber Polen erklärte
er, daß seine Partei es als einen Fehler ansehen würde, wenn die Regierung dem Akt
der Mittelmächte einen eigenen entsprechenden Akt gegenüberstellte. Die Unterstellung,
daß die Polen besondere Versprechungen brauchten, um ihre Untertanenpflichten gegen
Rußland zu erfüllen, sei eine Beleidigung für Polen. Der Beitritt Rumäniens sei einer
der in der letzten Zeit selten gewordenen Erfolge der russischen Diplomatie. Daß gegen
wärtig auch dieser Erfolg einer scharfen Kritik unterzogen werde, sei eine Folge des
Bestrebens, das Mißtrauen gegen die Regierung zu einer Quelle immer neuer Beschuldi
gungen zu machen, die aus den Gang der vorläufig unbekannten diplomatischen und
militärischen Operationen nur störend wirken könnten. Der Redner sagte:
»Wir verschließen nicht die Augen vor manchen Fehlgriffen der Regierung, verurteilen aber aufs
schärfste diejenigen, die aus Uebertreibung dieser Mängel nur suchen, die schwere Kriegszeit dazu
zu benutzen, die Macht an sich zu reißen. Der Fehler der Regierung liegt in der Inkonsequenz und
Furcht vor jetzt äußerst notwendigen durchgreifenden Maßnahmen. Die Anwendung des AuSnahme-
paragraphen 87 hat die Duma nur der eigenen Langsamkeit zu verdanken. Beim Kampf um die
Macht ist kein fruchtbares Arbeite» möglich."
Der Vertreter der rechten Nationalisten, Belaschew, hob den häufigen Wechsel der
Personen und die unzusammenhängenden Maßregeln der Regierung hervor und verlangte
als Kriegsziel langfristige Verträge mit den jetzigen Verbündeten für die Zeit nach dem
Kriege, die Schaffung eines befreundeten Großrumäniens und bezeichnete die Anhänger
des Gedankens eines vorzeitigen Friedens als Staatsverbrecher; er behauptete, ein
Frieden sei nicht möglich, ehe Rußland im Besitz der Meerengen und ehe die Vereinigung
aller altrussischen Gebiete gesichert sei. Der Zweck des Weltkrieges sei ein gewaltiges
Anwachsen der Macht Rußlands und die Wiedergeburt des Volkes als Triumph
russischer Kultur.
Die Stimmung hob sich zu nie dagewesener Höhe, als der Kadettensührer Miljukow
seine Rede begann, in der er, wie fast sämtliche Petersburger Zeitungen hervorhoben,
der Not und der Bürde des Volkes den tiefsten Ausdruck verlieh. Die Wiedergabe dieser
Rede wurde, wie erwähnt, von der Zensur völlig verboten; sie ist aber später, allerdings in
umredigierterForm,vonderStockholmer„DagensNyheter"(9.XII.16) veröffentlicht worden.
Darnach erinnerte Miljukow daran, daß er sich selbst vor einem Jahr gegen alle Art von Ver
leumdungen, diewegen angeblichen Verrats anhochstehenden Persönlichkeiten gegen ihn gerichtet
worden seien, verteidigt habe. Jetzt aber könnte er die Berechtigung derartiger Ver
dächtigungen nicht dementieren, weil »eine Handvoll mystischer Individuen" die wichtigsten
Staatsgeschäfte im Einklang mit ihren lumpigen persönlichen Interessen leiteten; hierzu
gehöre Rasputin, Manuilow, Fürst Andronnikow, Metropolit Pitirim und vor allem