Volltext: Frankreichs finanzielle Oligarchie [66]

die während dreier Generationen der beste Wall gegen alle An¬ 
stürme gewesen waren. Man mußte Konzessionen machen, man 
hatte kein festes Programm mehr, man lebte von der Land in den 
Mund, ließ die Ereignisse herankommen und betrachtete es als der 
Weisheit letzten Schluß, ebenfalls „wiedergeboren" zu werden, den 
öden „Kulturkampf" fallen zu lassen und den ungestümen Forde¬ 
rungen von unten her teilweise entgegenzukommen. Beauftragt mit 
der Verkündigung dieses Wandels wurden zwei Männer, die man 
gegenseitig ausspielen konnte, Poincaré und Caillaux. 
Es würde hier zu weit führen, falls wir näher auf die ver¬ 
hängnisvolle Rolle des Politikers Poincaré eingehen wollten (die 
belgischen Berichte beleuchten diese Rolle ja schon in ziemlich klarer 
Weise). Seiner Begabung nach in nichts von den gewandten 
ckeputês à'Lkàires unterschieden, wie wir sie zu Dutzenden als ein 
Merkmal des französischen Parlamentarismus vorfinden, hatte er 
es doch verstanden, sich nicht konrpromittieren zu lassen, sich zu 
reservieren und zur kritischen Zeit vom bloßen Werkzeug zum selb¬ 
ständigen Führer aufzuschwingen, hierbei allerdings in außerordent¬ 
lichem Maße durch die schon geschilderten Zustände begünstigt. In 
Caillaux, der die Gefahr des Syndikalismus wohl einzuschätzen ver¬ 
stand und der zudem ein glänzender Finanzsachmann war, hoffte 
man nicht nur den Retter aus der fiskalischen Rot, sondern auch 
das Gegengewicht für eine zu persönliche Politik des Elysees ge¬ 
funden zu haben, einen Mann, der über einen großen Anhang im 
Parlament verfügte und im Einvernehmen mit Clemenceau den 
vielleicht zu ehrgeizigen Lothringer zu Fall bringen konnte. Auf 
diese Weise glaubte man das so eminent herrschastserhaltende 
Schaukelspiel weiter fortsetzen zu können, aber die sich entwickelnden 
und sich in der Entwicklung überstürzenden Verhältnisse machten 
einen Strich durch diese Rechnung. 
(Man wird, hinsichtlich Caillaux', hier die Frage aufwerfen, 
wieso dieser Politiker ein Angehöriger der finanziellen Oligarchie und 
dennoch der Vorkämpfer für die Einkommensteuer sein konnte. Dieser 
Widerspruch läßt sich leicht erklären: nicht die Oligarchie war es, 
die die Einkommensteuer haßte, sondern die wohlhabende oder reiche 
Bourgeoisie. Für die Oligarchie lag deshalb kein Grund vor, diese 
Steuer zu bekämpfen, weil sie sich ihr mit Leichtigkeit entziehen 
konnte, was der Bourgeoisie jedoch weit weniger möglich gewesen 
wäre. Lier haben wir wiederum einen Beleg dafür, wie schwierig 
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