Volltext: Zwergenkalender für die Jugend und ihre Freunde 1922 (1922)

54 
Sündentaumel und Vergnügen. Da habe ich 
schnell die Augen abgewandt. Und wie ich so 
meine Blicke in die Ferne sende, um doch etwas 
Schönes zu sehen auf der armen Erde, da fal⸗ 
len sie auf den Gottesacker, der besät war von 
Gräbern und Hügeln. An einem schmalen Grab 
aber kniete eine Frau und weinte und schluchzte. 
Die Mutter, weißt Du, von dem Franzl, den 
vor kurzem erst sein Engel heraufgetragen hat. 
Dan ist er auch gerade hinter mich getreten, hat 
hinabgespäht und mir gesagt: „Mein Mutterl ist 
so traurig, das soll nicht sein, ich bin ja hier so 
glücklich. Sie wird mich nicht vergessen, aber 
noch gehört sie dem Leben, die Zeit ist kurz, in 
der wir unvergängliche Schätze sammeln; sie 
darf nicht unnütz vertrauert werden. Möchtest 
Du ihr diese Botschaft bringen?“ Natürlich wil⸗ 
ligte ich ein, holte ein Sträußchen Himmelsblü— 
ten und machte mich auf den Weg. Aber bis 
zur Erde ist's weit und fliegen macht so müde. 
So habe ich mich schließlich zum Ausruhen auf 
ein Sternlein gesetzt. Als ich aber mein Sträuß— 
chen besah, da waren die Blümchen alle welk 
geworden und ließen die Köpfchen hängen. Auf— 
geben wollte ich sie doch nicht, sind's doch Him⸗ 
melskinder, durch die manch lieber Trostesstrahl 
ins Menschenherz Einlaß findet. — Endlich ge— 
langte ich zum Ziel. Die arme Mutter saß am 
Fenster und schaute sehnsüchtig in die Ferne. 
Da kam ich ganz nahe heran, drückte ihr die 
Blumen in die Hand und sagte: „Vom Fran—⸗ 
zel“ — — Weiter kam ich nicht. Sie wandte 
mir schmerzvoll die todestraurigen Augen zu. 
Da wären mir selbst fast die Tränen gekommen, 
ich stammelte nur: „Nicht weinen und — ver—⸗
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.