Volltext: "Mitteleuropa" [92]

züge der verbundenen Christenheit gegen den Islam gesehen, die 
Deutschen hatten auch in dieser Unternehmung Europas als poli¬ 
tisches und geistiges Laupt die Führung behalten; nun aber hatte 
mit der Eroberung Konstantinopels die mohammedanische Welt 
ihren raschen Siegeszug über die Randvölker Mitteleuropas an¬ 
getreten und klopfte in der großen Zeitenwende des scheidenden 
15. Jahrhunderts an die Pforten der deutschen Welt. 
Es ist charakteristisch, daß der allerchristlichste König des 
gleichzeitig zur europäischen Politik erobernd antretenden Frank¬ 
reich seine Waffen mit denen des Sultans gegen das deutsche 
Reich verbündete. ^ Diese Konstellation bleibt mit der allgemeinen 
Lage Europas für zwei Jahrhunderte; sie entspricht derjenigen, 
in der wir uns befinden, mit dem Unterschiede, daß seit Peter 
dem Großen und Katharina II. der Zar an die Stelle des Sultans 
getreten ist, mit den jüngsten Ereignissen der Sultan aber in das 
mitteleuropäische Lager gegangen ist, wohin er mit der inzwischen 
bewirkten Lebensgemeinschaft von Mitteleuropa und Orient ge¬ 
hört. Daß das sonderbare Bündnis zwischen Frankreich und der 
Türkei mit dem französischen Hintergedanken, die Türken später 
wieder zu vertreiben, so lange bestand, erklärt sich aus dem natür¬ 
lichen Gegensatz, in dem beide Staaten politisch und kulturell zum 
Reiche standen, und aus den politischen Verwicklungen, durch die 
die Dynastien der Bourbonen und der Habsburger in den 
Kampf gegeneinander getrieben wurden. Die Besitzungen der 
Habsburger in Spanien, Italien und den Niederlanden legten 
sich wie ein eiserner Ring um Frankreich, den es weltpolitisch 
durchbrechen mußte. Aber auch nachdem diese unnatürliche Ver¬ 
bindung Spaniens mit dem deutschen Besitz der Habsburger ge¬ 
löst war, dauerte der Gegensatz zwischen Frankreich und dem Reich 
an. And das ist für die Bildung der mitteleuropäischen Idee von 
Wichtigkeit gewesen. 
Diese weltgeschichtliche Lage Mitteleuropas um das 16. Jahr¬ 
hundert hätte die Geburtsstunde der mitteleuropäischen Idee 
werden können; sie wurde es aber erst, als Rußland gegen 
Ende des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage der gleichen 
Religion, anders als die Türkei, gleichberechtigt und wirklich 
bündnissähig in die Reihe der Großmächte eintrat. Es ist 
ein Verschiedenes, ob eine Menschheitsgruppe Kultureinheit und 
Kultureigenheit besitzt und ob sie sich bereits dieser Werte bewußt 
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