Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Die griechisch-türkischen Differenzen. 
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in Athen wohnhaften Obermufti, volle Auf 
rechterhaltung des Londoner Vertrages für beide 
Teile, Unterrichtserteilung in den mohammedani 
schen Schulen in türkischer Sprache, wobei je 
doch die griechische Sprache ebenfalls gelehrt 
werden soll, Spesenbestreitung der normalen 
Schulen und Moscheen durch die griechische Ne 
gierung. 
Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. 
Auf der einen Seite die türkische Verschleppungs 
taktik, auf der anderen Seite wenig Geneigtheit, 
den türkischen Forderungen nachzugeben — so 
konnte man zu keinem Ende gelangen. Es wurde 
zwar wiederholt aus Athen wie aus Konstan 
tinopel gemeldet, daß die Verhandlungen gute 
Fortschritte machten, doch erfuhr man auch, daß 
stets, wenn eine Vereinbarung erhielt schien, 
wieder Abänderungsanträge, zumeist von der 
türkischen Seite gestellt wurden. 
Am 23. Oktober hieß es, es sei eine Eini 
gung in der Vakuffrage erzielt worden. Am 
Tag darauf erfuhr man, daß die Negierung in 
Konstantinopel mit den Beschlüssen des Sub 
komitees in Athen nicht einverstanden war. 
Ende Oktober waren die griechisch-türkischen 
Verhandlungen vollkommen ins Stocken geraten. 
Einer der türkischen Delegierten mußte nach 
Konstantinopel reisen, angeblich weil der draht 
liche Verkehr zwischen Athen und der türkischen 
Hauptstadt stark erschwert war, um sich neue 
Instruktionen zu holen. 
Nun griff Numänien vermittelnd ein. Der 
Verlauf des zweiten Balkankrieges und der 
Bukarester Konferenz hatte bei den leitenden 
Staatsmännern in der rumänischen Hauptstadt 
die Meinung hervorgerufen, daß Numänien ge 
wissermaßen als Balkanvormacht eine Art Poli 
zei auf dem Balkan auszuüben habe. Der ru 
mänische Minister des Äußern Take Jonescu 
machte eine angebliche Vergnügungsreise nach 
Athen. In Konstantinopel hatte er eine Unter 
redung mit dem dortigen Minister des Innern, 
Talaat Bey, die sich bereits auf die griechisch 
türkischen Verhandlungen bezog. In Athen wurde 
Take Ionescu in der festlichsten Meise empfan 
gen, aber es zeigte sich bald, daß er nicht nach 
der griechischen Hauptstadt gekommen war, nur 
um sich feiern zu lassen, sondern daß er einen 
politischen Zweck mit seiner Neise verband. Er 
hatte außer mit den griechischen Politikern 
Unterredungen mit den türkischen Delegierten 
und die Quintessenz seiner Mitteilungen der 
türkischen Unterhändler war, daß Numänien nicht 
länger uninteressiert Zusehen könne, wie die Ver 
handlungen verschleppt würden. 
Die türkischen Delegierten berichteten in 
diesem Sinne nach Konstantinopel und der 
Effekt war, daß am 11. November bereits das 
türkisch-griechische Übereinkommen paraphiert wer 
den konnte. Die türkische Negierung allerdings 
schien im letzten Augenblick noch eine Verzöge 
rung zu versuchen und stellte neue Gegenforde 
rungen auf. Man einigte sich jedoch in Kon 
stantinopel und Athen auf eine mittlere Linie 
und in der Nacht zum 14. November wurde 
in Athen der Friedensvertrag unterzeichnet. 
Der Vertrag besagte im wesentlichen fol 
gendes: 
Alle Verträge und Konventionen, die vor 
dem Kriege bestanden haben, werden in vollem 
Umfange wieder in Kraft gesetzt. Den durch die 
Kriegsereignisse kompromittierten oder in Be 
stehung zu ihnen stehenden Personen wird Am 
nestie gewährt. Die Einwohner der abgetretenen 
Gebiete werden griechische Untertanen, wenn sie 
nicht innerhalb dreier Jahre für die ottomanische 
Nationalität optieren und ihren Mohnsitz außer 
halb Griechenlands nehmen. Die Einwohner 
der abgetretenen Gebiete behalten ihren in diesen 
Gebieten gelegenen Grundbesitz. Das Protokoll 
sichert die Achtung vor dem Eigentumsrecht, 
privater Grundbesitz darf nur aus Gründen des 
öffentlichen Mohles und gegen Entschädigung 
enteignet werden. Das private Eigentum des 
Sultans und der kaiserlichen Familie wird als 
solches anerkannt und bleibt im unangefochtenen 
Besitz der Eigentümer, während der privat 
besitz des Domanialgutes, der in einer dem 
Vertrage beigefügten Liste aufgeführt ist, der 
Entscheidung des internationalen Schiedsgerichtes 
in Haag unterliegen soll. Die Frage des Unter 
haltes der kriegsgefangenen Soldaten wird gleich 
falls durch das Schiedsgericht entschieden wer 
den, während das den kriegsgefangenen Ofsi- 
steren gezahlte Gehalt vergütet wird. Die Frage 
der Zurückgabe der weggenommenen Schiffe und 
die Schadenersatzforderungen der Interessenten 
infolge des Embargos oder der Wegnahme von 
Schiffen werden dem Schiedsgericht unterbreitet 
werden. Die Frage der Muftis und ihrer richter 
lichen Befugnisse ist geregelt. Die Vakufgüter 
werden anerkannt; der Vakufzehnte wird aufge 
hoben, aber wenn mohammedanische Klöster, 
Moscheen und Seminare ihren Unterhalt nicht 
zu bestreiten vermögen, so wird die griechische 
Negierung sie unterstützen. 
Das war der Vertrag. Zwischen den beiden 
Staaten aber schwebt noch immer die Frage der 
Inseln. 
Die Mächte haben wohl ihre Entscheidung 
gefällt und die Inseln mit Ausnahme von 
Jmbros, Lemnos und Tenedos und der noch 
von Italien besetzten zwölf Inseln Griechenland 
zugesprochen, aber die Türkei scheint sich damit 
nicht zufrieden geben zu wollen.
	        
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