Die Aufnahme des Programms für die Reunion.
Staatssekretär Sir Edward Grey hatte also
das Programm der Botschafterreunion, auf das
die Großmächte sich geeinigt hatten, dargelegt.
Daß alle Großmächte sich an dieser Reunion
gern beteiligten, kann man nicht sagen. Öster
reich-Ungarn vor allem mußte befürchten, auf
der Reunion majorisiert zu werden, denn wenn
auch die Beschlüsse der Reunion nur im Ein
verständnis mit den Regierungen erfolgen und
ohne Verbindlichkeit sein sollten, so legte die
Beschickung dieser Konferenz gewisse Verpflich
tungen auf, die unter Umständen lästig werden
konnten.
Am 10. Dezember wurde von offiziöser Seite
ein Umriß der Haltung gegeben, die Österreich-
Ungarn auf der Botschafterkonferenz einnehmen
würde. Es hieß:
1. Lehnt Österreich-Ungarn ab, die Zession
irgendeines Teiles der albanesischen Küste an
eine Balkanmacht zu diskutieren. Selbst die
serbische Regierung, im Unterschied zu der serbi
schen Militärpartei, ist bereit, dieses Prinzip der
Integrität und die Autonomie Albaniens anzu
erkennen. Österreich-Ungarn läßt eine Diskussion
hierüber nicht zu, höchstens eine Diskussion über
die Grenzen Albaniens mit Ausschluß der See
küste. Es verlangt auch, daß Serbien deutlich
erklärt, daß es die Grenze Albaniens respek
tieren wird.
2. Verlangt Österreich-Ungarn Berücksichti
gung seiner Interessen bei den kommenden Ver
änderungen bei den Orientbahnen. Die Ver
waltung dieser Bahnen wird infolge der türkischen
Gebietsabtretungen Veränderungen erfahren. Auf
jeden Fall muß entweder der ungehinderte Be
trieb der Bahn von den neuen Herren des
Landes garantiert oder die Gesellschaft ange
kauft werden. Akzeptable Vorschläge der Balkan
staaten werden nach ihrer Ausarbeitung, Dis
kussion und schriftlichen Formulierung der Bot
schafterkonferenz mitgeteilt werden.
3. Verlangt Österreich-Ungarn eine solche
Revision seiner Handelsverträge mit Serbien
und Bulgarien, die es dafür entschädigen wird,
daß Teile der Türkei, die österreichisch-ungari
sches Absatzgebiet sind, serbisch oder bulgarisch
werden. Österreich-Ungarn hat aber diese Frage
noch nicht angeschnitten.
Es war selbstverständlich, daß Österreich-
Ungarn seine Forderungen erst anmeldete, ehe
es sich an die Verhandlungen der Botschafter
band. Von Sir Edward Grey wie von poin-
care war darauf hingewiesen worden, daß die
Bestrebungen der Mächte darauf gerichtet sein
müßten, daß keine Großmacht sich allein in die
Balkanhändel mische, beziehungsweise ihre In
teressen für sich allein geltend zu machen suche.
Diese Forderung richtete sich selbstverständlich
gegen das meist interessierte Österreich-Ungarn
und deshalb mußte die Regierung der Monar
chie, wenigstens in großen Umrissen, die Bedin
gungen bekannt geben, unter denen sie die
Reunion in London beschicken konnte.
Von österreichischer offiziöser Seite wurde
ferner unterm 13. Dezember über die Aufgaben
der Botschafterreunion geschrieben:
Die Boischafterreunion in London, die wahr
scheinlich am 16. oder 17. beginnen wird, hat
die Ausgabe, einen Gedankenaustausch über den
Interessenkreis der Mächte bei der Regelung
der Balkanfragen herbeizuführen. Ihr gleich
zeitiges Zusammenfallen mit den Friedensver
handlungen in London darf keineswegs so auf
gefaßt werden, als ob die Mächte zuerst die
Friedensabmachungen abwarten wollten, um sie
dann zu prüfen und ihren Standpunkt dazu zu
präzisieren. Der Vorgang wird vielmehr der
sein, daß die Mächte unabhängig von den Frie
densverhandlungen versuchen werden, sich darauf
zu einigen, was sie zur Sicherung ihrer Inter
essen auf dem Balkan verlangen. Diese Fest
stellung des Interessenkreises der Mächte wird
den Unterhändlern bei den Friedensverhand
lungen als Richtschnur dienen können und ihnen
Gelegenheit geben, sie bei den Friedensabma
chungen zu berücksichtigen. Die Botschafter
reunion ist infolgedessen gänzlich unabhängig
von dem Verlaufe der Friedensverhandlungen,
sie ist ein Instrument zur Vereinfachung des
Gedankenaustausches unter den Mächten und
dürste ungefähr 8 bis IO Tage dauern. Die
Dauer der Friedensverhandlungen läßt sich bei
den großen Meinungsverschiedenheiten, die ge
rade in den wichtigsten Punkten zwischen der
Türkei und den Balkanverbündeten bestehen,
vorläufig überhaupt nicht abschätzen.
Die Konversation unter den Mächten dauert
fort. Sie ist seit Beginn des Balkankrieges
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