Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

608 
Der neue türkisch-bulgarische Konflikt. 
□□ 
gischen Grenze eine Kriegsmacht an, welche mit 
fortdauernden Aachschüben aus Anatolien bald 
das dritte 100.000 erreichen wird. 
Man braucht diese Erscheinung, die gewiß 
mit dem allgemeinen Friedensjubel und der an 
geblich schon begonnenen Abrüstung der sieg 
reichen Balkanstaaten in befremdlichem Wider- 
spruch steht, nicht gleich tragisch )u nehmen. 
Mit dem Verluste von Tripolis, Albanien und 
Makedonien büßt die Regierung schwer genug 
die Meijährige Verspätung der Erkenntnis des 
alten Spruches, daß, wer den Frieden will, den 
Krieg vorbereiten müsse. Sie will wenigstens 
seht, da ihrnur die Sprengung des Balkan 
bundes und die Eifersucht der Mächtegruppen 
noch eine europäische Erholungsfrist gönnte, gegen 
jede Möglichkeit gerüstet sein, die sich aus der 
noch lange nicht vollendeten Reuordnung des 
Balkans ergeben könnte. Schon jetzt klingt so 
gar aus dem Athener Festjubel wie ein schriller 
Mißton der warnende Kassandraruf des„Em- 
bros": „Dieser Friede ist nur ein Waffenstill 
stand, und nur derjenige, der in den nächsten 
5 fahren der stärkste geworden sein wird, wird 
die Souveränität über Makedonien und Thra 
kien wirklich besitzen." Diese Worte sind den 
türkischen Staatsmännern in den Tagen tiefster 
Betrübnis von befreundeter Seite oft genug als 
Trost zugeflüstert worden. Und' mit Erfolg. Die 
Türkei hat ausgeharrt, trotz Finanzboykotts und 
innerer Wirren unermüdlich weiter gerüstet, als 
ob sie nicht am Ende, sondern erst am Vor 
abend des Balkankrieges stünde. Ihre Armee 
hat heute in Thrakien den Status quo ante 
tatsächlich wieder hergestellt und im Grunde 
könnte sie im Besitze Adrianopels und Kirk- 
kiliffes niemand hindern, durch dieses Riesenloch 
im Londoner Protokoll weiter zu marschieren 
und zu erklären: Unser bisheriger Krieg war nur 
eine verspätete und unliebsam unterbrochene 
Mobilisation. Jetzt sind wir gerüstet, heraus mit 
Makedonien, heraus mit den Inseln l 
Cs ist vorläufig nicht anzunehmen, daß die 
Hohe Pforte, die schon mit der Überschreitung 
der „geraden Linie Enos—Midia" ein starkes 
Risiko auf sich nahm, sich von der Heeresstim 
mung zu weiteren, viel gefährlicheren Abenteuern 
hinreißen lassen werde. Aber der bulgarisch 
türkische Konflikt, der den eigentlichen Herd des 
Balkanbrandes bildete, bleibt trotz der mühseligen 
Diplomatenarbeit von London, Paris und Buka 
rest noch heute ungelöst, ja durch Bulgariens 
Schuld und Schwächung eher noch verschärft 
fortbestehen. Die Pforte scheint das humanitäre 
Motiv, das sie schon in ihrer Rechtfertigung 
der Besetzung Adrianopels so geschickt verwen 
dete, noch weiter ausnützen zu wollen. Sie gibt 
damit jedenfalls dem volkstümlichen Gedanken 
eines Rachekrieges für die Ausrottung der 
muselmanischen Bevölkerung so reichliche Rüh 
rung, daß sie die Geister, die sie rief, im kriti 
schen Momente vielleicht selbst nicht mehr bannen 
könnte. 
Die Verhandlungen in Konstantinopel. 
In Konstantinopel dachte man keineswegs 
daran, von den besetzten Gebieten wieder etwas 
herzugeben. Da Bulgarien einen Krieg nicht 
führen konnte und nicht führen wollte, blieb 
nichts anderes übrig, als mit der Pforte zu ver 
handeln. Zunächst wurde der frühere bulgarische 
Gesandte in Konstantinopel, G. D. Ratscho- 
witsch nach der türkischen Hauptstadt geschickt, 
der vorerst inoffiziell mit den türkischen Staats 
männern verhandeln sollte. Diese inoffiziellen 
Verhandlungen blieben aber resultatlos. Am 
29. August verlautete nun aus Sofia, der bul 
garische Ministerrat habe beschlossen, direkte 
Verhandlungen mit der Pforte einzuleiten. In 
den allernächsten Tagen schon sollten die bul 
garischen Delegierten ernannt werden und nach 
Konstantinopel abreisen. Rußland hatte zu 
direkten Verhandlungen geraten und man be 
fürchtete in Sofia, wenn nicht bald eine Eini 
gung erzielt würde, könnten die türkischen Regi 
menter sogar die alte bulgarische Grenze über 
schreiten. 
Zunächst wurde Ratschowitsch beauftragt, die 
direkten Verhandlungen einzuleiten. Außer ihm 
wurden als Vertreter Bulgariens nach Konstan 
tinopel entsandt: General Sawow, ferner der 
ehemalige Gesandte in Belgrad Toschew und 
im Hinblick auf die zu regelnden wirtschaftlichen 
Fragen der Bankier Kaltschew. 
Die bulgarische Regierung ließ ferner durch 
ihre Vertreter den Großmächten eine Rote über 
reichen, in der sie um Unterstützung bei den 
Verhandlungen mit der Türkei bat. In dieser 
Rote teilte Bulgarien den Großmächten als das 
Minimum seiner Forderungen die folgende 
Grenze mit: Die neue Grenze soll einige Kilo 
meter östlich von Enos am Ausgang des Golfes 
von Fenos beginnen, dann IO Kilometer östlich 
von der Maritza dem Laufe dieses Flusses bis 
unmittelbar südlich von Adrianopel folgen. Von 
hier ab folgt sie genau dem Laufe der Maritza bis 
zur Mündung der Tundscha, in deren Tal sie 
einige Kilometer nördlich von Adrianopel selbst 
geht, bis sie hier in einem fast rechten Winkel 
nach Osten abzweigt und ungefähr der alten 
Grenzlinie, wie sie im Vertrag von San Ste 
fano festgesetzt worden war, folgt, um bei 
Midia an der Küste des Schwarten Meeres?u 
enden. 
Rach diesem Vorschlag wäre den Türken 
der weitaus größte und wichtigste Teil der Stadt 
Adrianopel verblieben. So sehr lag Bulgarien
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.