Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Debatte über die Balkansragen im deutschen Reichstage. 
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fast gesichert fein. Es hängt viel von Berlin ab, 
das) die „große Politik", aus welcher unaus 
weichlich der Krieg hervorgehen muß, in Wien 
nicht das Übergewicht bekommt." 
Ratürlich beschäftigte sich auch die russische 
presse mit der Kan^lerrede. Die „Rowoje 
Wremja" wies darauf hin, daß die Geschichte 
sich scheinbar wiederhole, aber die Umstände 
hätten sich seit der Rnnexionskrise vollkommen 
verändert. 
(seht handelt es sich, sagt das Blatt, um 
Interessen, die für Serbien, alle Balkanvölker 
und für Nußland selbst große Bedeutung haben. 
Die russische Diplomatie wird daher nicht so 
leicht durch bloße Drohung zum kleinmütigen 
Rückzug M nötigen sein. Die Balkanstaaten re 
präsentieren seht eine wahrhafte Großmacht, 
Rußland von 1912 ist nicht dasjenige von 
1909; vielleicht ist Rußland noch nie so stark 
gewesen wie jetzt. Und endlich ist die Gerech 
tigkeit unserer Sache der ganzen Welt klar. 
Weiter glaubte das Blatt, daß der Reichs 
kanzler durch die Klausel „wenn der Existenz 
Österreichs Gefahr droht", Deutschland eine 
Rück^ugslinie gesichert habe. Immerhin müßte 
die Erklärung des Reichskanzlers Rußland zu 
einer Vorsichtsmaßregel nötigen; in den deutschen 
Banken liegen kolossale Summen des russischen 
Staates, wenn wir nicht irren, etwa eine Milli 
arde Mark. Die Vorsicht verlangt, daß diese 
Summen sofort zurückverlangt werden. Wenn 
unser Freund die Perspektive eines Krieges mit 
uns eröffnet, kann man unser Geld, den wahren 
Rerv des Krieges, nicht zu seiner Verfügung 
lassen, und je rascher das geschieht, desto besser 
für unsere Freundschaft. 
Die „Rietsch" hielt im Hinblick auf die 
Kanzlerrede das Ruftreten Sasanows für un 
bedingt notwendig. Man muß anerkennen, sagte 
das Blatt, daß das Schweigen unserer offiziellen 
Diplomatie nicht besonders vorteilhaft auf unsere 
Rolle im internationalen Ehor einwirkt. Indem 
unsere Diplomatie dem Erscheinen vor den 
Volksvertretern entsagt, schwächt sie nicht nur 
sich selbst, sondern macht auch die öffentliche 
Meinung nervös, statt sie zu beruhigen. Wenn 
nach den kategorischen Erklärungen darüber, 
was unsere Rachbarn wollen, unsere eigenen 
Rbsichten ein tiefes Geheimnis bleiben, so macht 
es den Eindruck nicht bloß der Abhängigkeit, 
sondern auch der Schwäche. 
Die englische presse beschäftigte sich eben 
falls eingehend mit der Kanzlerrede und den 
Ausführungen des Staatssekretärs v. Kiderlen- 
Waechter. Die „Times" schrieb: 
Die Reden des Reichskanzlers und des 
Staatssekretärs v. Kiderlen-Waechter werden 
in England gebührend gewürdigt werden. Sie 
sind von eminent friedliebendem Geiste durch 
drungen. Der Staatssekretär nimmt auf die 
Haltung Englands in den gegenwärtigen Fragen 
mit Vertrauen und Freundschaftlichkeit Bezug, 
die hier vollauf erwidert werden. Die Erklärung 
des Staatssekretärs bestätigt die Rede des Bot 
schafters Fürsten Lichnowsky. Die beiden Re 
gierungen arbeiten zusammen an der Sache des 
Friedens, den beide als eines der höchsten In 
teressen ihrer Völker erkennen. Allerorten wird 
auf vernünftige Leute die hoffnungsvolle Stim 
mung des Reichskanzlers einen angenehmen 
Eindruck machen, um so mehr, als er seine 
Rügen vor bedrohlichen Tatsachen nicht ver 
schließt. Deutschland wird natürlich die berech 
tigten Forderungen seiner Verbündeten aufrecht 
erhalten, wie andere Mächte die ihrer Freunde 
unterstützen. Es braucht kaum gesagt zu werden, 
daß nichts Herausforderndes in dieser Erklärung 
liegt, wenn sie auch ungeschminkt abgegeben 
wird. Es ist nicht mehr als eine Erklärung, 
daß Deutschland im Rotfalle seine Verpflichtung 
gegenüber dem Verpflichteten erfüllen wird, wie 
es jede ehrenhafte Macht tun würde. Dieser 
Teil der Rede ist, wie wir hören, in Österreich- 
Ungarn mit großer Genugtuung aufgenommen 
worden. Einzelne Stellen dürften in Konstanti 
nopel willkommen sein. Der Reichskanzler er 
klärte, die Bestrebungen Deutschlands würden 
nach der Wiederherstellung des Friedens darauf 
gerichtet sein, die Vitalität der Türkei als einen 
bedeutenden politischen und ökonomischen Faktor 
der Welt aufrecht zu erhalten. Bei solchen 
Bestrebungen wird Deutschland nicht allein 
stehen. 
„Daily Rews" betonten, daß das Interesse 
Englands wesentlich darin bestehe, den Frieden 
zu bewahren. Sein Bestreben sei, jeden Zwist 
zu vermeiden, der England in einen Konflikt 
verwickeln würde, der es selbst nichts angehe. 
Das Blatt fuhr fort: Diese abgesonderte Hal 
tung ist Englands Stärke. Es ist die hoffnungs 
reichste Tatsache in der Lage, daß unsere Be 
ziehungen zu Deutschland während der ganzen 
Krise befriedigendere gewesen sind, als seit 
langem. Diese erfreuliche Tatsache ist gestern 
vom Staatssekretär v. Kiderlen-Waechter in 
einer bemerkenswerten Rede bestätigt worden. 
Rach der Rede sollte keine Kriegsgefahr be 
stehen. In dieser wie in allen Krisen liegt die 
endgiltige Entscheidung Mischen Deutschland 
und England. 
Der „Daily Telegrah" meinte: Es ist ein 
glückliches Zeichen in der gegenwärtigen Ver 
wirrung, daß Deutschland die Jnteressengleichheit 
in der Haltung Englands und Frankreichs er 
kennt, da beide in gleichem Sinne mit ihm ar 
beiten. Richt umsonst legte Fürst Lichnowsky 
am Samstag beredten Rachdruck auf die Bande, 
die unsere deutschen Rachbarn mit uns ver
	        
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