Die Vorgeschichte des neuen Balkankrieges.
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Der präliminarfriede ist geschloffen und es
drängt sich nun unwillkürlich die Frage auf, wie
sich die Teilung der Beute Mischen den ver
bündeten Balkanstaaten gestalten wird. Mit
Recht verfolgt die Welt den Ausgang dieser
Angelegenheit mit ebenso großem Interesse als
die dramatische Entwicklung des welthistorischen
Ereignisses auf dem Balkan. Es ist nicht zu
verkennen, das) sich die Situation mit jedem
Tage kritischer gestaltet und gerade die täglichen
Zusammenstöße, obwohl sie nur einen lokalen
Charakter haben und nur der Siegestrunkenheit
der Truppen zuzuschreiben sind, haben jedoch für
die Zukunft nichts Ermutigendes an sich und
lassen uns diese durchaus in keinem rosigen
Lichte erscheinen. Wir wollen hoffen,
das) die regierenden Faktoren der
Balkanstaaten im vollen Bewußtsein
ihrer Verantwortlichkeit sind und
die vorgekommenen Zusammenstöße
und gegenseitigen Reibungen die
weitere Entwicklung eines Einver
ständnisses für eine friedliche Lö
sung der brennenden Fragen nicht
beeinflussen werden.
Was insbesondere die griechische
Regierung anbelangt, so zeigt Mi
nisterpräsident Venizelos ein weiteres
Entgegenkommen in dem Wunsche,
daß der Balkanbund weiterbestehen
soll und macht den Verbündeten
Konzessionen, durch die er sich der
Gefahr ausseht, in seinem eigenen
Lande mißverstanden zu werden.
Venizelos hat bisher schon Prinzipien
der griechischen Politik geopfert, die
von allen griechischen Politikern für
heilig gehalten wurden. Er hat die
Rotwendigkeit des Einverständnisses
mit den anderen Balkanstaaten ein
gesehen, denn ohne dieses wäre das
gemeinsame Ziel, die Befreiung der
Konnationalen, nicht erreicht worden. Eines dieser
schweren Opfer war die Unterbrechung der grie
chischen Kontinuität entlang der ägäischen und
thrazischen Küste, um den Bulgaren eine Le
bensnotwendigkeit, den Ausgang zum Meere,
zu ermöglichen. Venizelos' Optimismus ist bei
spiellos, und wenn von seiten der Verbündeten
ein gleiches Entgegenkommen gezeigt wird, dann
wird wohl auch die Frage der Aufteilung eine
friedliche Lösung finden und die Gefahr eines
Vernichtungskrieges vermieden werden. Immer
hin konnte er mit seinem Entgegenkommen nur
in bestimmten Grenzen bleiben und nach seiner
Meinung sollen folgende zwei Prinzipien unbe
dingt zur Geltung kommen:
1. Das Prinzip des Gleichgewichtes am
Balkan;
2. das Rationalitätenprinzip im Zusammen
hange mit dem Kompensationsprinzip.
Eine Hegemonie eines der Balkanstaaten
über die anderen ist nicht möglich und wird nicht
geduldet. Die Tatsache, daß die europäische
Türkei absolut nicht homogen ist, läßt eine auf
ethnologischer Grundlage fußende Grenzbestim
mung als fast unmöglich erscheinen; um so mehr,
als die Bedürfnisse der Balkanstaaten mit diesem
Prinzip nicht in vollem Einklang stehen. So
lange man an diesem Prinzip festhält, daß der
Krieg ein Befreiungs- und kein Eroberungskrieg
war, müssen küe Grundlinien der Rationalität
der Bewohner allein die Verteilung der erwor
benen Länder bestimmen. Die gerechte und un
Streffleurs Militärische Zeitschrift, Wien.
Griechische Infanterie aus dem Marsche.
beeinflußte Befriedigung der interessierten Staaten
und die Sicherung eines dauernden und not
wendigen Friedens kann jedenfalls nur im Ein
klang mit dem Rationalitätenprinzip und jenem
der Kompensation gefunden werden. Auf Grund
dieser zwei Prinzipien könnte jedenfalls der
heute von Serbien geübte Einfluß mit Recht
in ein Herrscherrecht auf ganz Altserbien ver
wandelt werden, mit Grenzlinien, welche, vom
Ochridasee beginnend, das Vilajet von Monastir
abtrennen, nördlich der gleichnamigen Stadt
ziehen und bis Köprülü sich erstrecken würden,
wo sie die heutige bulgarische Grenze erreichen.
Ferner kann die heutige griechische Einflußzone
der neuen serbischen Grenzlinie bis zum Vardar-
fluß folgen, sodann längs dieses Flusses bis
Demir-Kapu, dem Kamme des Belechgebirges