Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Der neue Staat Albanien. 
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Krieges und die verzweifelten Lebensbedingun 
gen ihr Jerstörungswerk am Geiste getan. Wie 
mußte sich die Vernichtung erst bei den Soldaten 
zeigen, wenn gebildete Leute so zerrüttet waren! 
Das Lokal, in dem wir gemeinsam schliefen, 
war unrein und Fliegen und Mücken sielen 
über uns, als eine sichere Beute, erbarmungs 
los her. Meine Schlafgenossen fieberten und 
erhoben sich ungezählte Male von ihren La 
gern. 
Zeitig am Morgen ließ ich satteln. Die 
Reisegesellschaft erlitt eine Veränderung: mein 
albanesischer Dragoman hatte sich im Dunkel 
der Rächt mit seinem und dem Packtier auf und 
davon gemacht, in der unbegründeten Furcht, 
von den Türken umgebracht zu werden. Als ob 
die armen Teufel nebst dem Willen zum Mor 
den die physische Kraft besessen hätten, einen 
Gewehrkolben an die bleiche Wange zu drücken. 
Mir blieb der türkische Polizeisoldat und uns 
gesellte sich einer der Arzte als Dritter bei. Und 
nun begann der Aufstieg über einen sanften 
Hügelrücken, der mit Gebüsch und jungem Eichen 
wuchs über und über bedeckt war. Aus Eichen 
laub waren auch die Hütten der Soldaten, unter 
der Gluthitze der Sonne freilich zu herbstlichen 
Farben verdorrt. Herbstlich schauten nicht nur 
die Hütten drein; dem Leben verloren und der 
Vernichtung verfallen, boten sich auch die In 
sassen dem Auge dar. Das waren keine Men 
schen mehr. Die meisten glichen wandelnden 
Skeletten, denen ein Zufall noch einige Fetzen 
gelassen hatte. Regungslos lagen die armen 
Menschen in den Hütten oder kauerten mit 
stierem, fieberndem Blicke davor. Sie wehrten 
nicht einmal mehr den Fliegen und ekelhaften 
Insekten, die manches Gesicht wie mit einer 
Kruste bedeckten. Wo man sich einer Gruppe 
von Hütten näherte, wehte einem ein süß-saurer, 
häßlicher Geruch entgegen. Kein Laut ertönte; 
es herrschte Stille, wie in einem Sterbehause. 
Die Augen der Menschen erfüllte eine unend 
liche Traurigkeit und Trostlosigkeit, wo nicht ein 
Fieber mit flackernder Glut in ihnen brannte. 
Die Farbe der Haut war rostgelb und von einer 
krankhaften Durchsichtigkeit. Aller Leiden Grund 
ist Hunger. Der Monate andauernden Unter 
ernährung, dem Genuß unreifer Früchte und 
Kräuter folgten schmerzhafte Erkrankungen, wel 
chen die Bedauernswerten zu Tausenden zum 
Opfer fielen. 
3 Tage blieb ich im Lazarett der italieni 
schen Rote KreuMission, die als einzige Hilfe 
europäischen Mitgefühls vor kurzem angelangt 
war. Was bedeutete sie, was konnte sie helfen, 
wo 20.000 Menschen hungern und 10.000 krank 
darniederliegen. In den Zelten konnten kaum 
2 Dutzend Schwerkranke Aufnahme finden. Ein 
Haus zu mieten, um es in ein Spital umzu 
wandeln, fand unübersteigliche Hindernisse. Die 
Albanesen verlangten für einen elenden Stall 
täglich ein türkisches Pfund als Mietpreis. 
Und wer konnte für die Kranken die so nötige 
Milch beschaffen, da für den Liter 80 Heller 
verlangt wurde? Für ein Pfund Brot galt es, 
den Albanesen 1 Krone 50 Heller zu erlegen. 
Die Tätigkeit der Italiener beschränkte sich ge 
zwungenermaßen auf die Erteilung von Fieber 
mitteln. Die Malaria wütete schrecklich. Wer 
frägt, wo blieben die türkischen Arzte, dem muß 
ich die Antwort geben, daß ich nicht einen ein 
zigen an der Arbeit sah. Sie schienen selbst 
entweder krank zu sein oder, wie meine gestrigen 
Gastfreunde, in orientalischer Resignation zu 
verharren. Auf einen einzigen stieß ich, doch 
war er kein Türke, sondern ein jüdischer Arzt 
mit Ramen Salomon. 
Um das türkische Lager abzureiten, braucht 
man gut 4 Stunden. Ali Riza Pascha, der 
Befehlshaber der unglücklichen Armee, hatte zur 
Vermeidung von epidemischen Krankheiten die 
weise Anordnung getroffen, die Lager auf so 
große Distanz auszudehnen. Er selbst hat sein 
einfaches Zelt weit oben auf einem Hügel auf 
geschlagen. 
Sie sikd seit 2 Monaten der erste Journa 
list, der sich bei mir persönlich einfindet. Mit 
diesen Worten empfing mich der Generalissimus 
der Westarmee. Das prächtige Soldatengesicht 
umrahmt ein stark ergrauter Bart. Der Pascha 
spricht fließend deutsch und französisch und un 
sere Unterhaltung sprang von einer Sprache zur 
anderen. Es ist keine angenehme Sache, mit 
einem Feldherrn über einen so unglücklichen 
Verlauf aller seiner militärischen Operationen 
zu sprechen. Doch griff er selbst in dieses Thema 
hinein. Einfach und ohne mir ins Gesicht zu 
schauen, hub er mit der Erzählung der tragischen 
Ereignisse an, die kommen mußten, da die Tür 
ken gegen eine zu große Übermacht zu kämpfen 
hatten und der Verrat der albanesischen Truppen 
im Heere unheilvolle Folgen hatte. Er beschwerte 
sich über die unrichtige Berichterstattung, wo es 
sich um Zusammenstöße seines Heeres mit den 
Feinden handelte. Ich habe wenig gelesen, aber 
was ich zu Gesichte bekam war falsch und zu 
gunsten unserer Gegner. Wir haben, wo wir 
konnten, tapferen Widerstand geleistet. Mit den 
Besten meines Armeekorps habe ich mich schließ 
lich, verfolgt von Serben und Griechen, hierher 
zurückgezogen. Bei Tepedelen hatte ich am 
17. März den letzten Zusammenstoß mit den 
Griechen. Die Verbindung mit der Außenwelt 
war sozusagen abgeschnitten. So kam es, daß 
der erste Getreidetransport aus Konstantinopel 
erst am 28. April uns erreicht. Was wir vorher 
litten, ist nicht zu sagen. Die Sterblichkeit im 
Heere betrug in den Monaten März und April
	        
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