Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Die internationale Situation. 
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Demgemäß sind die beiden Regierungen 
zum Schluffe gelangt, das) gewisse Maßregeln 
rein defensiver Art, welche in den Grenz 
provinzen der beiden Staaten ergriffen worden 
waren, durch die Umstände nicht mehr erfordert 
zu werden scheinen. Daher ist die Herabsetzung 
der Truppenstärken Österreich-Ungarns in Ga 
licien auf einen normalen Stand soeben be 
schlossen worden. 
Ebenso wird die Entlassung der russischen 
Reserven derjenigen jahresklassen, welche im 
Herbst des vergangenen Wahres hätten entlasten 
werden sollen, verfügt werden. 
In Ergänzung des identischen Lommuniques 
der russischen und der österreichisch-ungarischen 
Regierung war jedoch die Petersburger Tele 
graphenagentur ermächtigt worden, mitzuteilen, 
daß, „wie sich aus den mit dem Wiener Kabi 
nett gepflogenen Erörterungen ergibt, die öster 
reichisch-ungarische Monarchie keine agressive 
Absicht gegenüber ihren südlichen Rachbarn 
hegt." 
So erfreulich die Eommuniques an sich für 
die Völker waren, so unangenehm hat in Men 
der Zusah berührt, der die österreichische Politik 
in einer gewissen Mise bloßstellen mußte- Man 
konnte annehmen, Österreich-Ungarn habe die 
Einigung mit Rußland dadurch erkauft, daß es 
bis zu einem gewissen Grade auf eine weitere 
Betätigung auf dem Balkan verzichtete. Man 
konnte annehmen, Österreich-Ungarn habe das 
Versprechen gegeben, Serbien nichts zu tun 
und in dieser Annahme lag zugleich das Zu 
geständnis, daß Österreich-Ungarn sich im Un 
recht befunden habe. Von offiziöser Wiener 
Seite wurde sofort" erklärt, daß der Zusah zu 
dem russischen (Kommunique keineswegs auf eine 
Vereinbarung zwischen den beiderseitigen Re 
gierungen sich gründete. Es ist später behauptet 
worden, der österreichisch-ungarische Botschafter 
in Petersburg, Graf Thurn-Valsaffina habe 
irrtümlich die Erlaubnis zur Veröffentlichung 
dieses Zusatzes gegeben und die ein halbes 
Jahr später erfolgte Abberufung des Botschafters 
ist auf diese Ungeschicklichkeit zurückgeführt 
worden, jedenfalls zeigte die Veröffentlichung, 
wie wenig Sympathien in Petersburg für 
Österreich-Ungarn trotz des Abrüstungsbeschlusses 
bestanden und wie man selbst diese Gelegenheit 
nicht vorübergehen lassen konnte, ohne dem un 
angenehmen Konkurrenten auf dem Balkan 
etwas Unangenehmes zu sagen. 
Immerhin war durch dieses Abrüstungs 
übereinkommen die äußerste Gefahr vorerst be 
seitigt — es kamen noch Gefahren genug für 
den Frieden Europas. 
Die bulgarisch-rumänischen Beziehungen 
waren noch immer nicht in Ordnung gebracht. 
Als die Feindseligkeiten zwischen den Balkan 
verbündeten und der Türkei wieder aufgenommen 
wurden, betrieb Rumänien die Durchsetzung 
seiner Forderungen an Bulgarien mit weniger 
Energie, als während der Verhandlungen, je 
mehr sich indes aus den Ereignissen ergab, daß 
Bulgarien auf einen sehr wesentlichen Zuwachs 
an Land hoffen konnte, desto deutlicher sprach 
man in Bukarest. In Sofia hatte man von den 
Türken, wie es scheint, die Taktik des Ver- 
zögerns angenommen; man ließ zunächst die 
rumänischen Anfragen unbeantwortet oder gab 
ausweichende Antworten, so daß sich Rumänien 
veranlaßt sah, immer dringender zu werden. 
An einen Ausgleich zwischen Bulgarien 
und Rumänien durch direkte Verhandlungen 
war kaum noch zu denken und so tauchte der 
Vorschlag auf, die rumänischen Forderungen 
einem internationalen Schiedsgericht, einer neuen 
Botschafterkonferenz, zu überweisen. Da die 
Botschafter in London ohnedies schwere Auf 
gaben zu erfüllen hatten, einigte man sich 
schließlich, den Streit in Petersburg entscheiden 
zu lassen. Von den Verhandlungen in Peters 
burg wird später noch eingehend die Rede sein. 
Die albanesische Frage. 
Die Londoner Botschafterreunion hatte be 
kanntlich die Schaffung eines autonomen Fürsten 
tums Albanien vorgeschlagen und dazu die Zu 
stimmung der Mächte gefunden. Es war nun 
die Aufgabe der Botschafterreunion, zunächst 
die Grenzen dieses neuen Staates zu be 
stimmen. 
Österreich-Ungarn, das in Albanien besondere 
politische Interessen hat und das auf die 
Wahrung seines Prestiges auf dem Balkan 
deshalb ganz besonders bedacht sein mußte, 
weil das Vordringen des Slawentums seine 
Stellung nicht unwesentlich gefährdete, hatte 
die moralische Verpflichtung, sich dafür einzu 
setzen, daß das neue Fürstentum zu einem 
lebensfähigen Staat ausgestaltet wurde. Zu 
diesem Zwecke war es notwendig, die Grenzen 
Albaniens nicht zu eng zu stecken. Die ursprüng 
liche Forderung Österreich-Ungarns ging dahin, 
die Grenzen Albaniens nach ethnographischen 
Prinzipien festzulegen. Wir haben an der Hand 
eines Aufsatzes von Le Monnier gesehen, wie 
sich diese ethnographischen Grenzen darstellten. 
Es besteht kein Zweifel, daß dieses Prinzip 
das allein richtige war. Die Balkanalliierten 
hatten selbst die Parole ausgegeben: „Der 
Balkan den Balkanvölkernl" Und es war nur 
recht und billig, daß auch Albanien nach diesem 
Grundsätze behandelt wurde. 
Die österreichische Politik hatte indes in 
dieser Richtung in London nur einen sehr be 
scheidenen Erfolg. Rußland setzte sich mit dem
	        
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