Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Die Folgen der Umwälzung in Konstantinopel. 
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gehabt, mit denen sie den guten Zweck er 
reichen wollten, doch ist nicht daran zu zweifeln, 
das) das Volk die Ansichten der neuen Re 
gierung teilt, soferne es sich um die Erhaltung 
von Adrianopel handelt." 
Für die Volksstimmung in dieser Frage 
führte Kemali Bey das folgende charakteristische 
Beispiel an: 
„Meine Tochter ist ein lIjähriges Kind 
und dieses Kind hat bitterlich geweint, als wir 
das Telegramm erhielten, in dem die Bereit 
willigkeit des Rationalrates, Adrianopel abzu 
treten, mitgeteilt wurde. Es ist ein Irrtum der 
Mächte", fuhr der Diplomat fort, „zu glauben, 
daß die Übergabe Adrianopels an Bulgarien 
einen dau rnden Frieden herbeiführen würde. Adria- 
nopel ist in den Händen der Bulgaren eine stete Be 
drohung Konstantinopels. Außerdem aber könnte 
die Türkei den Verlust von Adrianopel nicht 
verschmerzen. Es würde ein Revanchebedürfnis 
zurückbleiben, das gute Beziehungen zwischen 
den beiden Völkern verhindern würde. Die 
Rachgiebigkeit in diesem Punkte hingegen könnte 
zu guten Beziehungen führen, ebenso wie die 
rücksichtsvolle Haltung Bismarcks gegen Öster 
reich im Jahre 1866 das innige Freundschafts 
verhältnis zwischen den beiden Mächten zur 
Folge hatte." 
Glaubt man in der Türkei für den Fall, 
daß der Wiederausbruch des Krieges sich nicht 
vermeiden ließe, über die Verbündeten militäri 
sche Vorteile gewinnen zu können? 
Kemali Bey: „Gewiß. Ich habe von 
mehreren hohen Offizieren direkte Rachrichten 
erhalten, aus denen hervorgeht, daß die Truppen 
vor Tschataldscha in vorzüglicher Verfassung 
sind und den Wiederbeginn des Krieges herbei 
sehnen. Es wäre für Bulgarien weniger gefähr 
lich, freiwillig nachzugeben. Jetzt fordern wir 
nichts anderes, als daß wir Adrianopel behalten. 
Falls wir aber imstande sind, erfolgreich die 
Offensive zu ergreifen, so würden die Bulgaren 
mehr verlieren." 
Man nimmt vielfach an, bemerkte der 
Korrespondent, daß die Türkei aus finanziellen 
Rücksichten an der erfolgreichen Weiterführung 
des Krieges verhindert wäre. 
Der Diplomat entgegnete: „Es ist aller 
dings richtig, daß wir nach dem Friedensschluß 
große Summen benötigen werden, um unsere 
Verhältnisse neu zu ordnen. Für den Krieg 
kommt das aber nicht in Betracht. Um so 
weniger, als unsere Truppen heute bedürfnislos 
sind und die Kriegsführung daher relativ geringe 
Mittel erfordert." 
So viel man weiß, soll der Botschafter 
Rußlands und, wie es heißt, auch der Frank 
reichs der Kolektivnote der Mächte durch be 
sondere Drohungen Rachdruck verliehen haben. 
Balkankrieg. II. 
War die Rachgiebigkeit Kiamil Paschas zum 
Teil auf diese Haltung der Ententemächte zurück 
zuführen und hat man in Konstantinopel den 
Eindruck gewonnen, daß die Übereinstimmung 
der Großmächte keine vollkommene ist? 
Kemali Bey erwiderte: „Bei uns ist die 
Sachlage so aufzufassen, daß Kiamil Pascha 
zunächst alles versuchte, um Adrianopel zu be 
haupten. Da aber die Kollektivnote selbst die 
Drohung enthielt, daß Provinzen der asiatischen 
Türkei weggenommen werden könnten, so blieb 
ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben. Er 
hat eine Antwortnote aufgefetzt, in der er er 
klärte, die Pforte fei bereit, die Entscheidung 
der von der Rote angeregten Fragen den Groß 
mächten zu überlassen. Die Kollektivnote mußten 
wir als den Ausdruck des gemeinsamen Willens 
aller Großmächte ansehen. Es ist allerdings 
sehr wohl möglich, daß Rußland ein beson 
deres Interesse daran hatte, sich der verbündeten 
Balkanstaaten anzunehmen. Jedenfalls hätten 
wir uns ohne die Intervention der Mächte 
längst mit Bulgarien geeinigt. Bulgarien war 
zur Rachgiebigkeit geneigt. Es ist ja ein öffent 
liches Geheimnis, daß König Ferdinand Abge 
sandte nach Konstantinopel geschickt hat. Erst 
die einseitige Vermittlungsaktion der Mächte 
hat die Unnachgiebigkeit der verbündeten 
Balkanstaaten hervorgerufen." 
Der Korrespondent fragte: Da nun Kiamil 
Pascha, wie sie selbst erwähnten, nicht anders 
handeln konnte, als er unter dem Drucke der 
Mächte gehandelt hat, welche Aussichten besitzt 
dann die neue Regierung, mit besonderem Er 
folge zu operieren, um eine vielleicht von den 
Großmächten drohende Gefahr abzuwenden? 
„Wir hoffen", lautete die Antwort, „daß 
der Umsturz, der in Konstantinopel von einer 
Schar beherzter Männer herbeigeführt wurde, 
den Mächten die Augen öffnen werde. Wir 
haben längst prophezeit, daß eine Regierung, 
die Adrianopel aufgäbe, hinweggefegt werden 
würde. Das ist eingetroffen. Vielleicht werden 
die Mächte daraufhin ihren bisherigen Stand 
punkt aufgeben." 
Auf die Frage, in welcher Form die neue 
Regierung auf die Kollektivnote reagieren werde, 
erwiderte Kiamil Bey: 
„Rach meiner Meinung dürfte man in einer 
Antwortnote die Großmächte bitten, durch ihre 
Vermittlung dahin zu wirken, daß die Ver 
bündeten mit solchen Forderungen an die Pforte 
herantreten mögen, die als Basis weiterer Ver 
handlungen geeignet sind. Adrianopel wird das 
neue Kabinett keinesfalls aufgeben." 
Eine Anzahl von Zungtürken, darunter 
mehrere führende Persönlichkeiten, hielt sich zur 
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