Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Der Staatsstreich in Konstantinopel. 
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5 Minuten später erschien der neue Scheich- 
ül-Islam, Mehmed Effad Effendi, in einer 
Hofkutsche. Vor ihr fuhr der Ieremonienmeister 
Memduh Bey. Auch der Scheich-ül-Islam 
wurde von der Menge mit Beifall begrüßt. 
Gestern erfolgte auf der Hohen Pforte mit 
dem üblichen Zeremoniell die Verlesung des 
kaiserlichen Dekretes, welches die Ernennung 
des bisherigen Fetva Emmi, Mehmed Effad 
Effendi, zum Scheich-ül-Islam sanktioniert. 
Aach dem Selamlik wurde der neue Scheich- 
ül-Islam, in dessen Begleitung sich Mahmud 
Schefket Pascha befand, vom Sultan in Au 
dienz empfangen, um ihm für seine Ernennung 
zu danken. Beide begaben sich sodann mit dem 
ersten Palastsekretär, der das Hatt-i-Humajun 
bei sich trug, in einer Mouche nach Sirkedschi, 
wo sie von den Zeremonienmeistern und 
höheren Beamten des Großwesirats empfangen 
wurden und Galawagen bestiegen, um nach 
der Hohen Pforte zu fahren. Dort betraten 
Mahmud Schefket Pascha sowie Mehmed Effad 
Effendi den Sitzungssaal unter Vorantritt des 
Palastsekretärs, welcher das in rotem Samt ein 
gehüllte kaiserliche Dekret trug. Er küßte das 
selbe, überreichte es Mahmud Schefket Pascha, 
der es dem Müsteschar im Großwesirat, Adil 
Bey, zur Verlesung übergab. Aach derselben 
sprach der frühere Abgeordnete von Aidin, der 
Ulema Obeidullah Effendi, ein Gebet. Damit 
war die Feier beendet. Der neue Scheich-ül- 
Islam nahm die Glückwünsche der Mitglieder 
des neuen Kabinetts und der übrigen Anwesen 
den entgegen, unter denen sich auch die ersten 
Dragomane der deutschen, französischen und der 
italienischen Botschaft befanden. Sodann fuhr 
der neue Scheich-ül-Islam im Galawagen von 
Lanzenreitern eskortiert nach dem Scheich-ül- 
Islamat, wo gleichfalls eine Zeremonie statt 
fand. 
Die Proklamation der Jungtürken. 
Während der vorgestrigen Kundgebung vor 
der Pforte wurden in einfacher Sprache ver 
faßte Proklamationen verteilt, die keine Unter 
schrift trugen. Die Proklamation hatte folgen 
den Wortlaut: 
Während unser Staat in Tripolis und 
Benghasi einen ruhmvollen Krieg mit Italien 
führte, brach in Albanien ein Aufstand aus. 
Einige Offiziere der zur Unterdrückung des Auf 
standes abgesandten Truppen gingen zu den 
Rebellen über. Ebenso desertierten einige vater 
landslose Offiziere der in Südalbanien stehen 
den Truppen und flohen bewaffnet in die Berge. 
So geschah es, daß sich zu dem Kriege gegen 
den äußeren Feind auch eine innere Bewegung 
gesellte, durch die das Kabinett Said Pascha 
Mm Rücktritt gezwungen wurde. Als dann 
Ahmed Mukhtar Pascha die Zügel der Re 
gierung übernahm, hofften alle, er werde Ord 
nung im Lande schaffen. Leider bestand der 
erste Schritt der neuen Regierung in der An 
nahme des Waffenstillstandes mit den Auf 
rührern und in dem Beschluß, ihre Forderungen 
anzunehmen. Hierdurch zeigte sie, daß sie eine 
falsche Auffassung von der auf der Balkan 
halbinsel zu befolgenden Politik hatte. Die Auf 
rührer machten sich diesen Fehler zunutze, 
drangen zuerst in pristina und dann in llsküb 
ein, vertrieben aus diesen Städten die Staats 
beamten und erlaubten sich räuberische Hand 
lungen. Die dort stehenden Truppen wurden 
von der Regierung zu einer bloßen Zuschauer- 
rolle verurteilt. Eine solche Haltung wurde im 
Auslande als ein Zeichen der Schwäche und 
des Sinkens unserer Militärmacht aufgefaßt 
und bestärkte die Balkanstaaten in ihren Ab 
sichten auf unser Land. 
Die Worte, die der bulgarische Gesandte in 
London im Augenblicke des Einzuges der 
Albanesen in llsküb äußerte, daß nämlich die 
Unfähigkeit der osmanischen Regierung, einige 
tausend Rebellen zu bezwingen, den Beginn 
eines großen Unglücks für unser Land bedeute, 
stellen eine drastische Warnung dar, wie sie 
selten aus Feindesmund vernommen wird. Sie 
wurde jedoch von uns nicht in Betracht gezogen. 
Dem Marsche der Aufständischen nach Köprülü 
wurde kein Widerstand entgegengesetzt. Schließ 
lich wurden den Aufständischen solche Zugeständ 
nisse gemacht, wie sie gewöhnlich den Untertanen 
einer siegreichen Macht bewilligt werden. Außer 
dem standen sie mit dem Verfassungsgeseh in 
Widerspruch. 
Das Kabinett Ahmed Mukhtar Pascha ließ 
es jedoch bei dieser einen Vergewaltigung der 
Verfassung nicht bewenden. Es fügte sich dem 
Willen der Aufrührer, schloß und löste die 
das Vertrauen der Osmanen besitzende Depu 
tiertenkammer auf. Da sich im Lande keine 
starke Stimme des Protestes gegen diesen Vor 
gang, der als eine im höchsten Sinne tragische 
Vergewaltigung der Verfassung angesehen 
werden muß, erhob, urteilte man im Auslande, 
in den Herzen der Osmanen sei jeder Funke 
des Rationalstolzes erloschen. 
Die fehlerhafte Politik des Kabinetts Ahmed 
Mukhtar Pascha trug zur Entstehung und Be 
festigung des Balkanbundes bei, da durch sie 
bei den Balkanstaaten die Ansicht hervorgerufen 
wurde, es sei Ohnmacht und Zerwürfnis in die 
Armee eingetreten. Die Balkanstaaten kamen 
zu der Schlußfolgerung, das osmanische Volk 
sei unfähig, Interesse an den Tag zu legen, 
selbst wenn seine geheiligten Rechte mit Füßen 
getreten würden. Das Kabinett Ahmed Mukhtar
	        
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