Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Der Staatsstreich in Konstantinopel. 
193 
□□ 
gute Aussichten, die Bulgaren zu schlagen. Dieser 
Stimmung in der Armee entspricht auch die 
Stimmung in den jungtürkischen Kreisen. 
Man hält in diesen Kreisen eine Fort 
setzung des Krieges nicht für unwahrscheinlich. 
* * * 
Am Tage darauf erfuhr man, das) bei dem 
Eindringen Enver Beys in den Beratungssaal 
der Kriegsminister Razim Pascha erschossen 
wurde. 
Enver Bey war, so wurde gemeldet, mit 
20 Offizieren und Unionisten in Zivil in das 
Gebäude der Pforte eingetreten, während draußen 
die Mollahs warteten. Der Adjutant Kiazuils 
stellte sich ihnen entgegen und der Adjutant 
Razim Paschas suchte ihn in der Abwehr der 
Eindringlinge zu unterstützen. Es wurden Schüsse 
gewechselt, von denen einer den Generalissimus 
Razim Pascha traf, der auf den Lärm hin 
herbeigeeilt war. 
Uber den Leichnam des gefallenen Ministers 
hinweg schritt Enver Bey mit seinen Begleitern 
in den Beratungssaal. 
Das Molfffche Bureau meldete aus Kon- 
stantinopel: 
Die Erschießung Razim Paschas, die ge 
eignet erscheinen könnte, das ruhige und ziel 
bewußte Vorgehen Enver Beys und Talaat 
Beys zu diskreditieren, ist zweifellos durch die 
Schuld der Adjutanten Kiamil Paschas und 
Razim Paschas bedingt worden. 
Enver Bey und Talaat Bey hatten aus 
drücklich beschlossen, kein Blut zu vergießen. 
Als jedoch die Adjutanten Razim Paschas auf 
Enver Bey und seine Begleiter schossen, wurde 
das Feuer erwidert, wobei Razim Pascha fiel. 
Trotz dieses Zwischenfalles ist die Ordnung 
nirgends gestört worden und in der ganzen 
Stadt herrscht Ruhe. Dieser Kabinettswechsel 
ist ein Merk der Armee. Sie will unbedingt 
den Krieg und zieht die Fortsetzung des Feld 
zuges einem unehrenhaften Frieden vor. 
* . * 
* 
Der Konstantinopler Korrespondent der 
„Daily Ehronicle" berichtete unterm 23. Za- 
nuar, 3 Uhr 15 Minuten nachmittags: 
Als ich nach einer östündigen Sitzung des 
Ministerrates auf der Pforte wartete, sah ich 
Enver Bey zu Pferde auf die Pforte zukommen. 
Ihm folgte eine große Menge, die eine heftige 
Demonstration gegen die Regierung veranstaltete. 
Enver Bey trat ein, kam aber nach einiger 
Zeit wieder heraus und haranguierte die Menge 
im Sinne der Fortsetzung des Krieges. Dann 
bestieg er ein Automobil und fuhr nach dem 
Palast. Bald darauf wurde bekannt, daß er 
Balkankrieg. II. 
dem Sultan die Demission Kiamil Paschas und 
des ganzen Kabinetts überbringe. 
Inzwischen dauerten die Demonstrationen 
vor der Pforte fort und in leidenschaftlichen 
Ansprachen wurde die Fortsetzung des Krieges 
gefordert. Die Menge blieb beisammen, auch als 
die Ernennung des neuen Ministeriums bekannt 
geworden war, um auf die Ankunft Mahmud 
Schefket Paschas zu warten. Die Straßen 
Konstantinopels selbst aber blieben ruhig. 
Mister Kingham, ein Direktor der Rational 
bank of Turkey und Mister Huguenin von der 
anatolischen Bahn, die um 3 Uhr auf die Pforte 
gekommen waren, um mit dem Finanzminister zu 
konferieren und in einem Raum anstoßend an 
den Saal des Ministerrats warteten, wurden, 
als die Demonstration begann, von der Polizei 
eingeschlossen und blieben es bis 6 Uhr, als 
Dragomans der englischen und der französischen 
Botschaft erschienen und ihre Freilassung ver 
langten. 
Der „Times" zufolge war Talaat Bey am 
23. Januar um 11 Uhr vormittags bei Kiamil 
Pascha erschienen und verlangte dessen Demission. 
Kiamil Pascha aber verweigerte jede Antwort 
und der Ministerrat fuhr bis 2 Uhr fort, sich 
mit der Textierung der Antwort auf die Rote 
der Mächte zu beschäftigen. Dann wurde ge 
frühstückt. 
Kurz vor 3 Uhr erschien Dschemal Bey, 
der frühere Mali von Adana und Bagdad, vor 
der Pforte, begleitet von 5 berittenen Offizieren. 
Gleichzeitig kamen ein Dutzend Personen aus 
dem Kaffeehaus einer Seitenstraße heraus und 
entrollten eine Fahne. Andere Leute kamen hin 
zu und in einigen Minuten waren etwa 200 
Personen beisammen. 
Jetzt erschien Enver Bey auf einem Schimmel, 
begleitet von den Generalstäblern Kiazim Bey 
und tzalil Bey und von vier oder fünf anderen 
Offizieren. Von der Menge begrüßt, ritt Enver 
Bey ein, saß, bei der Treppe angelangt, ab, 
betrat mit seiner Suite das Vestibül und ver 
langte den Großwesir zu sehen. Alle Türen 
wurden sofort geschlossen. Memduh Pascha, der 
Kommandant von Konstantinopel, bewachte selbst 
den Eingang zum Ministersaal. Rur Enver Bey 
und Talaat Bey durften eintreten. 
Enver Bey sagte den Ministern, daß die 
Ration den Verlust Adrianopels nicht ertragen 
würde, das Ministerium müsse demissionieren. 
Kiamil Pascha schrieb die Demission nie 
der und gab das Schriftstück Enver Bey, der 
damit nach dem Palast fuhr. 
Der Sultan wollte ihm erst nicht glauben 
und sandte seinen ersten Kämmerer Ali Fuad 
Bey nach der Pforte. Dort schrieb Kiamil 
Pascha seine Demission nochmals nieder und 
Ali Fuad Bey überbrachte sie dem Sultan, der 
25
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.