Der Staatsstreich in Konstantinopel.
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Balkanstaaten annahm, aber die Einschränkungen
waren, soweit sie bekannt geworden sind, sehr
gemäßigt; die Gebietsabtretung sollte nur durch
Privilegien für die türkische Bewohnerschaft in
Adrianopel und durch gewisse Sicherheiten in
finanzieller Beziehung kompensiert werden.
Die Antwortnote hätte also am 24. Januar
den Großmächten überreicht werden sollen, die
Friedenskonferenz in London konnte dann sofort
wieder aufgenommen werden, die türkischen
Delegierten hätten die Weisung erhalten, den
Präliminarfrieden zu unterzeichnen, der Balkan
krieg wäre zu Ende gewesen.
Die Vertreibung des Kabinetts Kiamil
durch die Iungtürken.
Da griffen die Iungtürken ein, erzwangen
den Rücktritt des Kabinetts, machten Mahmud
Schefket Pascha zum Großwesir und alle Be
schlüsse der Negierung Kiamils waren mit einem
Schlag hinfällig geworden.
Die erste Meldung über den Staats
streich aus Konstantinopel, 23. Januar datiert,
lautete:
Das Kabinett hat seine Demission
gegeben. Es verlautet, daß Mahmud
Schefket Pascha zum Großwesir, Iezzet
Pascha zum Kriegsminister und General-
lissimus ernannt wurde.
Die nächste Meldung besagte:
Gegen Vs4 Uhr nachmittags veranstalteten
Enver Bey und der frühere Deputierte Nitt-
meister Dschami Bey an der Spitze von etwa
300 Softas eine lärmende Demonstration vor
der Pforte.
Die Demonstranten drangen während des
Ministerrates in den Vorhof der Pforte ein
und brachen in regierungsfeindliche Nufe aus,
weil die Negierung Adrianopel preisgebe und
sogar gegenüber Montenegro nachgeben müsse.
Sie verlangten den Nücktritt des Kabinetts.
Der Großwesir begab sich hierauf ins
Palais.
Als Enver Bey, der vor der Pforte war
tenden demonstrierenden Menge die Ernennung
Mahmud Schefkets zum Großwesir bekanntgab,
brach sie in stürmischen Beifall und enthu
siastische Kundgebungen aus. Enver Bey selbst
war der Gegenstand lebhafter Ovationen.
Kiamil Pascha und die Mitglieder feines
Kabinetts werden in ihren Häusern bewacht.
Der neue Minister des Innern, Talaat, er
klärte:
Diese Bewegung gibt zu erkennen, daß wir
im Begriffe sind, die nationale Ehre zu retten
oder bei dem Versuche unterzugehen. Wir
wollen nicht die Fortsetzung des Krieges, aber
wir sind entschlossen, Adrianopel zu erhalten.
Abends um Vs9 Uhr wurde vor einer
dichten Menschenmenge von der Terrasse der
Pforte herab das Neskript des Sultans ver
lesen, das die Ernennung Mahmud Schefkets
zum Großwesir und seine Betrauung mit der
Neubildung des Kabinetts bekanntgab. Trotz
des strömenden Negens harrten die Mani
festanten vor der Pforte aus, bis das Neskript
verlesen war, das sie mit stürmischem Beifall
begrüßten. Mahmud Schefket Pascha hielt so
dann an die Menge eine kurze Ansprache, in
welcher er ausführte, er wisse, daß er die Ne
gierungsgewalt unter schwierigen Umständen
übernehme. Er werde sich bemühen, das Vater
land zu retten.
Am gleichen Abend erschien noch ein Ne-
regierungscommunique, in welchem es hieß:
Der Entschluß, den das Kabinett Kiamil
als Antwort auf die Note der Mächte gefaßt
Hat, ganz Adrianopel und einen Teil der Inseln
preiszugeben, die Iusammenberufung einer außer
ordentlichen Natsversammlung, der dieser Ent
schluß der Negierung unterbreitet wurde, ein
Vorgehen, das der Verfassung widerspricht, hat
die Entrüstung der Nation hervorgerufen und
sie hat deshalb vor der Hohen Pforte eine
Kundgebung veranstaltet, infolge der das Mi
nisterium zurückgetreten ist.
Man erfuhr in Europa sehr rasch, unter
welch dramatischen Umständen dieser jungtürki
sche putsch vor sich gegangen war. Nachts kam
aus Konstantinopel folgende Meldung:
Kurz nach Mittag hatten sich auf der Pforte
die Minister versammelt, um über die Ab
fassung der Antwortnote zu beraten. Man hatte,
ohne daß etwas Außergewöhnliches eintrat,
2 Stunden beraten, als ein Iug von 500
Menschen herankam, dem Mollahs Fahnen
vorantrugen.
Ehe die Menge von Gendarmen gehindert
werden konnte, drang sie in den Hof der Hohen
Pforte ein und gleichzeitig kam ein Automobil,
dem unter stürmischen Beifallsrufen Enver Bey
und Talaat Bey entstiegen. Inzwischen war die
Menge die Treppe emporgestürmt und rief:
Nieder mit dem Ministerium, nieder mit Kiamil,
es lebe der Krieg!
Enver Bey und Talaat Bey machten sich
Bahn und drangen in das Innere der Pforte
ein. Die Mollahs hielten anfeuernde religiöse
Ansprachen, in denen sie sagten, die Negierung
habe das Land verraten, und feuerte die Menge
an, worauf wieder Nufe erschollen: Es lebe der
Krieg, nieder mit Kiamil!
Enver Bey drang in den Beratungssaal und
zwang das Kabinett zum Nücktritt.
Der Großwesir und die Minister gaben so
fort schriftlich ihre Demission.
Enver Bey überreichte die Demissions