Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Der Staatsstreich in Konstantinopel. 
□□ 
191 
Balkanstaaten annahm, aber die Einschränkungen 
waren, soweit sie bekannt geworden sind, sehr 
gemäßigt; die Gebietsabtretung sollte nur durch 
Privilegien für die türkische Bewohnerschaft in 
Adrianopel und durch gewisse Sicherheiten in 
finanzieller Beziehung kompensiert werden. 
Die Antwortnote hätte also am 24. Januar 
den Großmächten überreicht werden sollen, die 
Friedenskonferenz in London konnte dann sofort 
wieder aufgenommen werden, die türkischen 
Delegierten hätten die Weisung erhalten, den 
Präliminarfrieden zu unterzeichnen, der Balkan 
krieg wäre zu Ende gewesen. 
Die Vertreibung des Kabinetts Kiamil 
durch die Iungtürken. 
Da griffen die Iungtürken ein, erzwangen 
den Rücktritt des Kabinetts, machten Mahmud 
Schefket Pascha zum Großwesir und alle Be 
schlüsse der Negierung Kiamils waren mit einem 
Schlag hinfällig geworden. 
Die erste Meldung über den Staats 
streich aus Konstantinopel, 23. Januar datiert, 
lautete: 
Das Kabinett hat seine Demission 
gegeben. Es verlautet, daß Mahmud 
Schefket Pascha zum Großwesir, Iezzet 
Pascha zum Kriegsminister und General- 
lissimus ernannt wurde. 
Die nächste Meldung besagte: 
Gegen Vs4 Uhr nachmittags veranstalteten 
Enver Bey und der frühere Deputierte Nitt- 
meister Dschami Bey an der Spitze von etwa 
300 Softas eine lärmende Demonstration vor 
der Pforte. 
Die Demonstranten drangen während des 
Ministerrates in den Vorhof der Pforte ein 
und brachen in regierungsfeindliche Nufe aus, 
weil die Negierung Adrianopel preisgebe und 
sogar gegenüber Montenegro nachgeben müsse. 
Sie verlangten den Nücktritt des Kabinetts. 
Der Großwesir begab sich hierauf ins 
Palais. 
Als Enver Bey, der vor der Pforte war 
tenden demonstrierenden Menge die Ernennung 
Mahmud Schefkets zum Großwesir bekanntgab, 
brach sie in stürmischen Beifall und enthu 
siastische Kundgebungen aus. Enver Bey selbst 
war der Gegenstand lebhafter Ovationen. 
Kiamil Pascha und die Mitglieder feines 
Kabinetts werden in ihren Häusern bewacht. 
Der neue Minister des Innern, Talaat, er 
klärte: 
Diese Bewegung gibt zu erkennen, daß wir 
im Begriffe sind, die nationale Ehre zu retten 
oder bei dem Versuche unterzugehen. Wir 
wollen nicht die Fortsetzung des Krieges, aber 
wir sind entschlossen, Adrianopel zu erhalten. 
Abends um Vs9 Uhr wurde vor einer 
dichten Menschenmenge von der Terrasse der 
Pforte herab das Neskript des Sultans ver 
lesen, das die Ernennung Mahmud Schefkets 
zum Großwesir und seine Betrauung mit der 
Neubildung des Kabinetts bekanntgab. Trotz 
des strömenden Negens harrten die Mani 
festanten vor der Pforte aus, bis das Neskript 
verlesen war, das sie mit stürmischem Beifall 
begrüßten. Mahmud Schefket Pascha hielt so 
dann an die Menge eine kurze Ansprache, in 
welcher er ausführte, er wisse, daß er die Ne 
gierungsgewalt unter schwierigen Umständen 
übernehme. Er werde sich bemühen, das Vater 
land zu retten. 
Am gleichen Abend erschien noch ein Ne- 
regierungscommunique, in welchem es hieß: 
Der Entschluß, den das Kabinett Kiamil 
als Antwort auf die Note der Mächte gefaßt 
Hat, ganz Adrianopel und einen Teil der Inseln 
preiszugeben, die Iusammenberufung einer außer 
ordentlichen Natsversammlung, der dieser Ent 
schluß der Negierung unterbreitet wurde, ein 
Vorgehen, das der Verfassung widerspricht, hat 
die Entrüstung der Nation hervorgerufen und 
sie hat deshalb vor der Hohen Pforte eine 
Kundgebung veranstaltet, infolge der das Mi 
nisterium zurückgetreten ist. 
Man erfuhr in Europa sehr rasch, unter 
welch dramatischen Umständen dieser jungtürki 
sche putsch vor sich gegangen war. Nachts kam 
aus Konstantinopel folgende Meldung: 
Kurz nach Mittag hatten sich auf der Pforte 
die Minister versammelt, um über die Ab 
fassung der Antwortnote zu beraten. Man hatte, 
ohne daß etwas Außergewöhnliches eintrat, 
2 Stunden beraten, als ein Iug von 500 
Menschen herankam, dem Mollahs Fahnen 
vorantrugen. 
Ehe die Menge von Gendarmen gehindert 
werden konnte, drang sie in den Hof der Hohen 
Pforte ein und gleichzeitig kam ein Automobil, 
dem unter stürmischen Beifallsrufen Enver Bey 
und Talaat Bey entstiegen. Inzwischen war die 
Menge die Treppe emporgestürmt und rief: 
Nieder mit dem Ministerium, nieder mit Kiamil, 
es lebe der Krieg! 
Enver Bey und Talaat Bey machten sich 
Bahn und drangen in das Innere der Pforte 
ein. Die Mollahs hielten anfeuernde religiöse 
Ansprachen, in denen sie sagten, die Negierung 
habe das Land verraten, und feuerte die Menge 
an, worauf wieder Nufe erschollen: Es lebe der 
Krieg, nieder mit Kiamil! 
Enver Bey drang in den Beratungssaal und 
zwang das Kabinett zum Nücktritt. 
Der Großwesir und die Minister gaben so 
fort schriftlich ihre Demission. 
Enver Bey überreichte die Demissions
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.