Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Die Bemühung der Mächte um die Fortsetzung der Friedensverhandlungen. 
am 
Senats und der Kammer dargelegten Ideen 
einer beschleunigten Mediation der Mächte zu 
unterbreiten, welche mit Rücksicht auf die unver 
söhnliche Haltung der alliierten Mächte und 
der Türkei sich als dringend herausstellt. Grey 
und poincare hatten also im selben Augenblick 
die Rotwendigkeit eines beschleunigten Überein 
kommens der Großmächte zur Vermeidung der 
Wiederaufnahme der Feindseligkeiten empfunden. 
Zwischen den Entwürfen Edward Greys 
und poincares, die dem Sinne nach ähnlich 
sind, aber notwendigerweise in Form und Einzel 
heiten voneinander abweichen, muß die Har 
monie hergestellt werden, aus welcher die end- 
giltige Formel der gemeinsamen Aktion in 
Konstantinopel hervorgehen soll. 
Die Entwürfe bilden gegenwärtig den Gegen 
stand der Prüfung der Kabinette von Peters 
burg, Berlin, Wien und Rom; sie werden an 
jenen Stellen mit der den Arbeitsgewohnheiten 
und dem Interesse der einzelnen Mächte an den 
betreffenden Fragen entsprechenden Raschheit 
behandelt. 
Soweit der „Temps". Die Mächte hatten 
also aus ihren bisherigen Erfahrungen auf dem 
Balkan nichts gelernt; sie waren noch immer 
der Meinung, daß freundschaftliche Ratschläge 
genügen würden, den gewünschten Effekt bei 
den Balkandiplomaten zu erzielen. Vor allem 
hielt man sich an die Pforte. Es ist heute nicht 
mehr recht ersichtlich, warum die Mächte da 
mals annahmen, daß nur die Pforte nachgeben 
sollte. Ebensogut oder sogar noch mit mehr Recht 
konnte man von den Balkanstaaten verlangen, 
daß sie ihre Forderungen wesentlich zurück 
schraubten. Aber die europäische Diplomatie war 
daran gewöhnt, in allen Fragen des europäischen 
Orients auf die Türkei zu drücken, und diese 
Gewohnheit sehte sich auch in diesem Kriege 
fort. Die freundschaftlichen Ratschläge der Mächte, 
die von Anfang an weder von der Türkei noch 
von den Balkanstaaten beachtet wurden, fanden, 
wie es eigentlich selbstverständlich war, in Kon 
stantinopel wenig Gehör, und bei den Alliierten 
gar keines. Europa befand sich in der Situation 
eines alten Lehrmeisters, dem seine Schüler 
über den Kopf gewachsen sind- Diese tragi 
komische Rolle wurde bis zum llberdruß fort 
gesetzt, und erst als die Mächte den Weg der 
freundlichen Vorstellungen und Ermahnungen 
verließen, erst als Sir Edward Grey mit den 
Balkandelegierten sprach, wie mit diesen Leuten 
gesprochen werden muß, bekam das Wort Eu 
ropas wieder einige Geltung. 
* . * 
* 
Inzwischen wurde in London bekannt, daß 
die Türkei neue Vorschläge zu unterbreiten ge 
denke. Dr. Danew erzählte am 8. Januar, er 
habe die Verständigung erhalten, daß die Türkei 
den Alliierten einen neuen Vorschlag unterbreiten 
und zu diesem Zweck den Wiederzusammentritt 
der Konferenz verlangen wolle. Auch aus Kon 
stantinopel wurde berichtet, daß die Pforte be 
reits am 7. Januar neue Instruktionen an die 
türkischen Delegierten in London habe abgehen 
lassen. 
Aber am 9. Januar war bereits klar, daß 
diese neuen Vorschläge keine Verhandlungsbasis 
bedeuteten. Aus Konstantinopel wurde offiziell 
gemeldet: 
Die Pforte hat an ihre Botschafter im Aus 
land ein Zirkular gerichtet, worin diese verstän 
digt werden, daß in dem Falle, als die Balkan 
delegierten nicht bis Ende der Woche, also 
spätestens in 3 Tagen die Friedensvorschläge 
der Türkei annehmen, die ottomanischen Dele 
gierten unverzüglich würden aufgefordert werden, 
nach Konstantinopel zurückzukehren. 
Die Pforte sei fest entschlossen, ihren Stand 
punkt betreffend die Frage von Adrianopel und 
die Frage der Agäischen Inseln aufrecht zu er 
halten, weil die Türkei in den Opfern, die sie 
zugestanden habe, bereits bis an die äußerste 
Grenze gegangen sei. 
Aus dieser Rote ging hervor, daß die neuen 
Vorschläge der Pforte sich nur auf Kleinigkeiten 
beziehen konnten, daß also auf dieser Basis eine 
Fortführung der Verhandlungen nicht wahrschein 
lich war. 
Die Mächte verhandelten also weiter. Das 
Ergebnis war der Beschluß, der Türkei eine 
Kollektivnote überreichen zu lassen. Offiziell 
wurde am 10. Januar aus Konstantinopel be 
richtet: 
Die gestern abends unter dem Vorsitz des 
Doyens des diplomatischen Korps Markgrafen 
pallavicini in der österreichisch-ungarischen Bot 
schaft abgehaltene Reunion sämtlicher Bot 
schafter redigierte den Text einer der Pforte zu 
überreichenden Kollektivnote. 
Es wurde, wie man mit Befriedigung her 
vorhebt, volle Einigung erzielt. Der Kollektiv 
schritt wird in ähnlicher Form wie beim Tripolis 
konflikt in der Weise erfolgen, daß alle Bot 
schafter unter Vorantritt des Doyens nacheinan 
der auf der Pforte erscheinen und die Rote über 
reichen. 
Ihr Inhalt ist derzeit noch unbekannt, ihre 
Tonart aber entschieden wohlwollend. Einzel 
fragen werden anscheinend nicht berührt. Ihre 
Überreichung hätte bereits heute erfolgen können, 
doch einigte sich die Reunion auf Bemerken eines 
Botschafters, daß er den Text der Rote vorher 
noch seiner Regierung mitteilen wolle, zu dem 
gleichen Vorgehen. 
Der Text wurde noch nachts den Kabinetten 
telegraphiert. Rach der eingetroffenen Genehmi-
	        
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