Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Zwischen Krieg und Frieden. 
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ach so vielen, den Ärzten nichts übrig blieb, als 
die furchtbare, die grausame Amputation. 
Das Geschoß des modernen Gewehres ist 
ja humaner, als das der früheren Waffen. 
Sein kleiner Durchmesser, seine ungeheuere 
Rasanz jagen es oft durch einen Körper durch, 
ohne daß dieser nennenswerten Schaden er 
leidet. Herr Dr. v. Frisch zeigt mir einen Mann, 
dem die Kugel die Wirbelsäule glatt durch 
schlagen hatte. Lungenschüsse, Schüsse quer durch 
das Gehirn, Schüsse, die vorne beim Becken 
oder rückwärts beim Kreuz austraten — lauter 
Verwundungen, die man doch früher als ab 
solut tödlich ansah. Heute regt sich der Arzt über 
derlei eigentlich gar nicht mehr auf. Wenn die 
Kugel in gerader Schußrichtung in den Körper 
tritt, so bahnt sie sich durch ihn ihren Schuß 
kanal, dessen beide Öffnungen sich sogar von 
selbst schließen. Tritt sie nicht aus, bleibt sie 
irgendwo stecken, wird der Mann röntgenisiert 
oder er findet durch Tasten das Geschoß selbst, 
dieses wird entfernt und eine kleine Narbe 
bleibt zurück, die den alten Soldaten einmal 
daran erinnert, daß er schwer verwundet war. 
Natürlich sind das die glücklichsten Fälle. 
Die Bedingungen dafür sind, daß die Kugel 
gerade durchschlage, nicht etwa ein Geller sei, 
oder Gewandfehen mit in die Wunde reißen. 
Im ersteren Falle entstehen böse Wunden. 
Wunden, bei denen die Knochen nicht durch 
schlagen, sondern in furchtbarer Weise zersplittert 
werden. Oder die Gewebe werden zerrissen — 
kurz, solch ein Geller richtet den Mann her, so 
daß die Arzte oft ihre ganze Kunst zusammen 
nehmen müssen, um ihn wieder zusammenzu 
flicken. Gefährlich wird selbst die leichteste 
Wunde, wenn sie infolge des Eindringens von 
Stoffehen oder durch schlechte Behandlung septisch 
wird. Sowohl Primarius Dr. v. Frisch als 
auch Professor Dr. Eolmers, der das von der 
Königin eingerichtete Klementinenspital in Sofia 
leitet, erzählten, in welch schauerlichem Zustande 
die Verwundeten oft in ihre Hände kämen. 
Zunächst seien auf dem Schlachtfelde nicht ge 
nügend Arzte vorhanden; die armen Teufel 
müßten sich oft selbst verbinden; dann der 
Transport in diesen federlosen Ochsenkarren, in 
denen schon ein Gesunder nach einstündiger 
Fahrt sämtliche Heiligen anzurufen beginnt; 
dabei der Weg über diese entsetzlichen türkischen 
Straßen, durch Sturm und Regen und zum 
Schluß dann die endlose Eisenbahnfahrt in den 
notdürftig adaptierten Fourgons — man kann 
sich denken, in welchem Zustand die Ver 
wundeten im Spital ankommen. Wie mancher 
wird gar nicht erst ins Bett, sondern gleich auf 
den Operationstisch getragen und die Säge 
beginnt ihr schauerliches Werk. Wie manchen 
zeigten mir die Arzte, der seine geraden Glied 
maßen hätte behalten können, wäre ihm gleich 
die richtige Behandlung zuteil geworden. Aber 
dann kommt das Fieber — dann kommt 
der Brand ... die Fäulnis bei lebendigem 
Leibe . . .! Dr. v. Frisch zeigte mir einen 
Türken, der mit durchschossenem Bein volle 
7 Tage auf dem Felde im Regen liegen ge 
blieben war, bis ihn die bulgarischen Sanitäts 
soldaten fanden. Als er ins Spital kam, 
stanken seine Wunden so, daß einem Regiments- 
arzt, der doch gewiß nicht an allzu sensiblen 
Nerven leiden dürfte, schlecht wurde. Und bei 
Professor Eolmers sah ich einen Mann, bei 
dessen Anblick beinahe mir schlecht wurde. Der 
Ärmste hatte den Arm in der Binde, aus der 
schwarzbraun die Hand hervorsah. „Warum hat 
er denn einen Handschuh an?" fragte ich. 
„Einen Handschuh?" Und der Professor zog 
die Binde weg und ich sah, daß es die Hand 
selbst war, nicht tot, schlimmer, weit schlimmer 
— verfault. „Ich nehme sie ihm nicht ab", 
sagte der Arzt, „sie wird ja von selbst abfallen". 
Dabei streichelt er leise den struppigen Bauern 
schädel — aber der Blick, mit dem dieser zu 
ihm aufsah, sprach beredter gegen den Krieg, 
als es alle Enunziationen, Neden und Bro 
schüren der Pazifisten tun können. 
Oh, es gehören starke Nerven dazu, durch 
die Säle eines solchen Spitals zu gehen, durch 
diese schmalen Gassen des Elends und des 
Leidens zu wandern. Nicht alle sind leicht ver 
wundet, nicht bei allen kommt die Genesung 
mit schnellen Schritten. Bei vielen muß der 
Arzt erbittert mit dem Tode ringen, ehe er 
sein Opfer aus den Krallen läßt. Mancher liegt 
vergnügt im Bett, lacht dem Arzt entgegen und 
seine erste und einzige Frage ist: „Wann bin 
ich wieder gesund? Wann kann ich wieder 
in die Front zurück?" Aber gleich neben so 
einem Glücklichen, so einem Hoffnungsfreudigen 
liegt einer regungslos, apathisch, mit stierem 
Blick vor sich hinstarrend, den Kopf mit Kom 
pressen bedeckt . . . Behutsam tritt der Arzt an 
sein Bett. Er spricht nicht zu ihm, rührt ihn 
nicht an. „Ich hoffe, ich bringe ihn durch." 
Das ist alles, was er sagt. 3m Nebensaale 
liegt einer, dem ein Schrapnellstück die ganze 
Hüfte weggerissen ... Bleich, regungslos, kaum 
atmend... Und der Doktor greift in sein 
Portemonnaie und holt das verhängnisvolle 
Stück heraus, das er sich aufgehoben. Ein 
formloses Stück Blei ist es, kaum größer als 
der Daumennagel. Kaum spürt man sein Ge 
wicht auf der Hand und trotzdem war es im 
stande, einen jungen, kraftstrotzenden Körper in 
Fehen zu reißen. „Ich hoffe, ich bringe ihn 
durch," sagt der Doktor. 
Den erbarmungswürdigsten Eindruck machen 
die Türken, die da in den bulgarischen Spitälern
	        
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