Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Der Krieg während der Zriedensverhandlungen. 
.■4/■'4 m die Bedingungen des xukünftigen Frie- 
dens feilschten in London die Unter- 
Händler des Balkanbundes mit den 
Delegierten der Türkei. Auf dem Bal 
kan selbst herrschte aber keineswegs eine beson 
ders friedliche Stimmung; der Krieg dauerte in 
Wirklichkeit ja auch noch fort, weil Mischen der 
Türkei und Griechenland kein Waffenstillstand 
geschlossen worden war. Und die Stimmung in 
der türkischen Hauptstadt war nichts weniger als 
friedlich. Ein Konstantinopeler Brief vom 12. De 
zember schildert die Verhältnisse in der türkischen 
Hauptstadt aus der Zeit, da die Delegierten 
bereits unterwegs waren, um den Frieden xu 
suchen, folgendermaßen: 
Die Ara Kiamil macht sich! Die Negierung 
hat Mar die xuerst in armenischen Blättern auf 
getauchte Behauptung, daß sie sich mit Staats 
streichgedanken trage, gebührend niederdementiert, 
aber wohl noch nie ist das innerste Denken der 
höchsten wie der niedrigsten türkischen Schichten 
öffentlich so drastisch ausgedrückt worden, wie 
dieser Tage durch die „0ent Gaxeta": Unsere 
bisherige Verfassung war niemals eine echte 
Konstitution, sondern eine Art wälscher Salat, 
bestehend aus Mei sogenannten Parteien, richtiger 
Mei sich befehdenden revolutionären Komitees, 
einem unfruchtbaren Parlament und ebenso 
leistungsunfähigen Negierungen. Es ist dies der 
selbe Ideengang, dem unmittelbar nach den ver 
lorenen Schlachten fast alle Generale in bitteren 
Worten Luft machten, bloß mit dem Unter 
schiede, daß diese die Verfassung an sich als 
das Zersetzungsferment des Heeres bezeichneten, 
während die erwähnte gemäßigtere, aber noch 
weit verbreitetere Tonart die Anschauung ver 
tritt, daß die Konstitution Mar an sich etwas 
ganz Gutes sei, aber doch dem Empfinden und 
Bildungsgrad des türkischen Volkes mehr an 
gepaßt werden müßte, und Mar „sofort nach 
dem Friedensschlüsse". In der Praxis sind wir 
eigentlich schon wieder glücklich dort angelangt, 
wo wir vor 5 Jahren standen. Die Depeschen- 
xensur für die auswärtigen Telegramme ohne 
Unterschied ist noch das geringste der Übel und 
in ihrer jetzigen milden Einschränkung auf mili 
tärische Nachrichten durch den Kriegszustand 
gerechtfertigt. Aber die türkische Presse selbst darf 
ihren Lesern auch über die wichtigsten Vorgänge 
auf dem Kriegsschauplätze oder in der inneren 
Politik, sofern sie irgendwie unangenehm klingen, 
nicht einmal Andeutungen machen. Wie seiner 
zeit die Einnahme von Saloniki durch die 
Zensur eine Woche lang verheimlicht werden 
konnte, so ist jetzt auch die knapp vor dem 
Waffenstillstand erfolgte Kapitulation Javer Pa 
schas bis heute nur den Lesern europäischer 
Zeitungen bekannt, die denn auch an jedem 
posttage — dreimal in der Woche — mit Gier 
verschlungen werden. In den Gast- und Kaffee 
häusern peras sind die türkischen Gäste, welche 
mit dem Aufgebot aller ihrer Sprachkenntnisse 
stundenlang den Inhalt deutscher, französischer, 
englischer, italienischerBlätter herausbuchstabieren, 
schon ständige Figuren, und in den Vororten, 
wo die fremden Posten keinen Zuftelldienst haben, 
klagen die Abonnenten, daß sie ihre europäischen 
Zeitungen nur mit großen Verspätungen, mit 
unter xerlesen, xerrissen oder auch gar nicht er 
halten, weil Postbeamte oder sonstige Stamm 
gäste der postalischen Lesestube xuerst ihre Wiß 
begier über die Lage der Türkei befriedigen 
müssen, wäre es auch nur durch das Heraus 
reißen irgendeiner packenden Illustration. 
Natürlich tauchen in den öffentlichen Lokalen 
außer dem „Kanun" (Militärpolixisten), der nach 
gesetzwidrig kneipenden Offixieren fahndet, auch 
die bekannten Gestalten der politischen Spitzel 
wieder auf, welche im Dienste der Negierung 
oder verschiedener Parteien die oft mehr als 
naiven Kannegießereien der guten Bürger be 
lauschen und ihren Auftraggebern als „Volks 
stimmung" hinterbringen. Die wahre Gesinnung 
der Masse erfahren sie natürlich nie, denn diese 
schweigt, verstellt sich meisterhaft und horcht nur 
auf das Stichwort ihrer, den meisten selbst un 
bekannten Führer. Seit einigen Tagen dürfen 
die Lokalblätter auch das Walten der Zensur 
durch Leerlassung der zensurierten Spalten nicht 
mehr verraten; die ominösen weißen Flecke müssen 
durch beliebigen Text verdeckt werden. Und wehe 
dem, der nach 1 Uhr nachts noch über die 
menschenleere Straße xu gehen wagt, wäre es 
auch als Arxt, Eilbote oder Nachtredakteur. 
Die Polixei hat xwar solchen Personen Erlaub 
nisscheine ausgestellt, aber die Militärbehörde 
will sie nicht anerkennen, und erst kürzlich mußte 
ein nach Geschäftsschluß heimkehrender deutscher
	        
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