Volltext: Die Psychoanalyse [538/540]

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Ein Amerikaner erzählte in einer Gesellschaft von der 
Großtat der astronomischen Wissenschaft, durch die der Planet 
Neptun errechnet wurde, bevor man ihn mit irgendeinem 
Fernrohr erblickt hatte. Zwei Astronomen, ein Amerikaner 
und ein Franzose, hatten ausgerechnet, daß an einer bestimmten 
Stelle des Himmels ein bis dahin unbekannter Planet zu 
finden sein müsse. Diese Behauptung bestätigte sich, und so 
ward der Neptun entdeckt. Die Namen der beiden Astronomen 
waren dem Amerikaner geläufig. Als er aber an diesem Abend 
davon sprach, fiel ihm nur der französische ein: Leverrier. 
Selbst am nächsten Tag hielt die ärgerliche Unmöglichkeit an, 
sich an den amerikanischen Namen zu erinnern, der ihm 
doch näher liegen sollte als der französische. Schließlich 
ichaute er in einem Buch nach und fand den drüben sehr ver— 
breiteten Namen Adams. Sogleich fiel ihm ein, daß eine Frau, 
die er unglücklich geliebt hatte, so hieß. Sie war nun sternen— 
weit von ihm entfernt, und er hatte sich große Mühe gegeben, 
das Erlebnis zu vergessen. Verdrängte Komplexe sitzen im Un— 
bewußten und ziehen alles, was ihnen dem Klang oder dem 
Sinn nach ähnlich ist, zu sich hinab. Der Amerikaner hatte den 
Namen seines heimischen Astronomen vergessen, weil der Klang 
des Namens ihn an ein unangenehmes Erlebnis erinnerte. 
Ein Sänger hob eine Stelle in Wagners „Tristan“ hervor, 
nämlich die gegen Ende des zweiten Aktes: „Wohin nun 
Tristan ...“ hier stockte er. Ein Wort fehlte ihm. Er wußte 
genau, wie es weiter ging: „Willst du, Isold', ihm folgen?“ 
Er versuchte das fehlende Wort zu ergänzen: „hingeht ?“, nicht 
richtig. „Abzieht?“, pfui, wie unpoetisch. Es konnte nur ein 
zweisilbiges Zeitwort mit dem Ton auf der ersten Silbe sein. 
Schließlich schaute er im Text nach, und als er das Wort ge— 
funden hatte, wußte er auch sogleich, warum es ihm nicht ein— 
fallen wollte. Das Wort heißt: „scheidet“. Der Sänger ging 
aber seit langem mit dem Gedanken um, sich von seiner eifer— 
lüchtigen Gattin scheiden zu lassen. Er hatte diesen Gedanken 
noch niemand gegenüber ausgesprochen, war auch bei sich 
selbst noch nicht schlüssig geworden. Das vorliegende Vergessen 
verriet ihn dem Kundigen. „Der Selbstverrat“, sagt Freud, 
„dringt den Menschen aus allen Poren“ 
Was vom Vergessen gilt, das gilt auch vom Versprechen. 
Mancher Redner hat so seine wahre Gesinnung verraten. Es 
gibt Menschen, die ihren Mitmenschen eine Quelle des Humors
	        
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