Volltext: Die Psychoanalyse [538/540]

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Psychoanalyse betreibt Tiefenpsychologie und sucht hinter dem, 
vas der Patient vorbringt, die geheimen triebhaften Anteile, 
die durchaus nicht unmittelbar verständlich und noch weniger 
moralisch sind. 
Eine Patientin fragte den Analytiker, ob er seinen Kindern 
die Milch roh oder gekocht zukommen lasse. In dieser Frage 
allein steckt für den Analytiker schon ein Stück Uebertragung. 
Was geht einen Kranken die Ernährung der Kinder seines 
Arztes an? Als der Arzt, den Boden der Analyse ebenso ver⸗ 
lassend wie die Patientin, die reale Antwort gab, daß er die 
Milch abkochen lasse, sagte sie in einer merkwürdigen Erregung, 
das sei unsinnig, denn gekochte Milch habe gar keinen Wert. 
Der Arzt blieb noch immer in der realen Situation und er— 
klärbe, daß er wohl wisse, rohe Milch sei vorteilhafter als gekochte, 
daß er aber wegen der Infektionsgefahr auf diese Vorteile ver— 
zichten müsse. Die Patientin widersprach heftig und sagte, daß 
so eine Ernährung ganz unsinnig sei und eine Schlechtigkeit 
gegen die Kinder. Hier ist wohl eine Gelegenheit, um der 
Patientin zu zeigen, wie sie durch ihre scheinbar realen 
Bemerkungen dennoch mehr aus dem Unbewußten heraus als 
aus dem Bewußten spricht. Erstens: Die Ernährung der 
Kinder des Arztes geht die Patientin nichts an. Zweitens: Sie 
ist lein Arzt, und kann die Gefahren der rohen Milch an einem 
bestimmten Orte, zu einer bestimmten Zeit weniger gut ein⸗ 
schätzen als der Analytiker, der Arzt ist. Drittens: Sie bezahlt 
den Arzt, damit er ihr aus ihren Schwierigbeiten helfe, und ver⸗ 
geudet die Zeit mit Disputen über Kinderernährung. Wenn 
man so die Berechtigung erworben hat, die Realität des 
Gespräches für nichts zu achten, so wird man desto eher geneigt 
sein, den analytischen Sinn des Gespräches anzunehmen. Das 
Kind, welches vom Analytiker falsch ernährt wird, ist im analy⸗ 
lischen Siune niemand anderer als die Patientin selbst. Sie 
hört vom Analytiker immer nur Worte, anstatt daß er endlich 
einmal einsehe, wie einsam, liebebedürftig und unverschuldet 
im Elend sie sei. Was sie sucht, sind Menschen, richtiger den ein⸗ 
zigen Menschen, der ihr helfen kann. Diesen Wunsch überträgt 
fie auf den Analytiker. 
Dielelbe Patientin lernte eine andere Patientin des 
Analytikers kennen und gewann so scheinbar das Recht, ihrem 
Analytiber zu sagen, daß er ein harter Mensch sei. Er behandle
	        
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