406
Indessen findet die Ehe noch eine unerwartete
Stütze in der Anlage des Menschen, die von allen
Veränderungen der sozialen Formen unabhängig ist.
Gemeint ist die Bisexualität des Menschen und
deren besondere Gefetze. Alle Lebewesen sind bisexuell.
Sie sind eine Zusammensetzung aus männlichen und
weiblichen Keimen, von denen sie stammen. Es ist sehr wahr⸗
scheinlich geworden, daß es von dieser Regel keine Ausnahme
gibt (siehe Wilhelm Fließ, „Der Ablauf des Lebens“, Deuticke,
1928). Der Vorsprung des Geistigen, der den Menschen von
Tieren unterscheidet, erlaubt uns, die Bisexualität, die sich,
körperlich durch alles Lebendige verfolgen läßt, beim Menschen
im Geistigen zu beobachten. Es gibt — das ist seit Weiningers
Buch „Geschlecht und Charakter“ sehr bebannt — keinen hundert⸗
prozentigen Mann und kein hundertprozentiges Weib. Ein
Stück vom anderen Geschlecht steckt in ihnen. Jeder Mann ist
irgendwo auch feminin und jedes Weib irgendwo maskulin. Die
anatomischen Merkmale des Geschlechtes entscheiden nur die
praktische Einteilung. Die Sicherheit des Auftvretens als Mann
oder Weib gehört wohl auch zur Einheit des Bewußtseins.
Es ist aber zweifellos noch in jedem von uns etwas anderes,
das für gewöhnlich, der Einheit des Mann- oder Weibbewußt-⸗
seins zuliebe, ins Unbewußte verdrängt wird. Oft genug vbricht
es durch, und nicht nur der Invertierte fühlte sich dann im
Gegensatz zu seinen anatomischen Merkmalen, zur Tracht, zur
angeborenen Fahne, die er trädgt.
Bei Kindern sind die beiden Teile der Persönlichkeit
einander noch so vertraut, daß man den Kleinen am Gesicht
und dem größten Teil des Körperchens samt der Stimme kaum
anmerkt, welchen Geschlechtes sie sind. Binde einem kleinen
Knaben ein Kopftuch um und er sieht ganz wie ein Mädchen
aus. Kleide ein Mädchen in Hosen und ein Bübchen wird vor
dir stehen. Auch in der Seele erzeugt die Bisexualität (männ⸗
lich und weiblich in einer Person) beim Kinde noch nicht die
Spannumg, die den Menschen später unruhig macht, um ihn
erst im Greisenalter wieder zu verlassen. Hinderaugen blicken
uns wie geschlechtslos — in unserem Zeitalter nennt man das
auch: unschuldig — und ohne Sorgen an. Die Berechtigung
des Wordes Spannung erweist/ sich, wenn man Totenmasken
ansieht, deren Muskeln ihre Spannung verloren haben. Dem
zur Unbefangenheit fähigen Blick des Beobachters wird selbst
bei den Totenmasssken Goethes oder Beethovens auffallen, wie