Volltext: Die Psychoanalyse [538/540]

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Indessen findet die Ehe noch eine unerwartete 
Stütze in der Anlage des Menschen, die von allen 
Veränderungen der sozialen Formen unabhängig ist. 
Gemeint ist die Bisexualität des Menschen und 
deren besondere Gefetze. Alle Lebewesen sind bisexuell. 
Sie sind eine Zusammensetzung aus männlichen und 
weiblichen Keimen, von denen sie stammen. Es ist sehr wahr⸗ 
scheinlich geworden, daß es von dieser Regel keine Ausnahme 
gibt (siehe Wilhelm Fließ, „Der Ablauf des Lebens“, Deuticke, 
1928). Der Vorsprung des Geistigen, der den Menschen von 
Tieren unterscheidet, erlaubt uns, die Bisexualität, die sich, 
körperlich durch alles Lebendige verfolgen läßt, beim Menschen 
im Geistigen zu beobachten. Es gibt — das ist seit Weiningers 
Buch „Geschlecht und Charakter“ sehr bebannt — keinen hundert⸗ 
prozentigen Mann und kein hundertprozentiges Weib. Ein 
Stück vom anderen Geschlecht steckt in ihnen. Jeder Mann ist 
irgendwo auch feminin und jedes Weib irgendwo maskulin. Die 
anatomischen Merkmale des Geschlechtes entscheiden nur die 
praktische Einteilung. Die Sicherheit des Auftvretens als Mann 
oder Weib gehört wohl auch zur Einheit des Bewußtseins. 
Es ist aber zweifellos noch in jedem von uns etwas anderes, 
das für gewöhnlich, der Einheit des Mann- oder Weibbewußt-⸗ 
seins zuliebe, ins Unbewußte verdrängt wird. Oft genug vbricht 
es durch, und nicht nur der Invertierte fühlte sich dann im 
Gegensatz zu seinen anatomischen Merkmalen, zur Tracht, zur 
angeborenen Fahne, die er trädgt. 
Bei Kindern sind die beiden Teile der Persönlichkeit 
einander noch so vertraut, daß man den Kleinen am Gesicht 
und dem größten Teil des Körperchens samt der Stimme kaum 
anmerkt, welchen Geschlechtes sie sind. Binde einem kleinen 
Knaben ein Kopftuch um und er sieht ganz wie ein Mädchen 
aus. Kleide ein Mädchen in Hosen und ein Bübchen wird vor 
dir stehen. Auch in der Seele erzeugt die Bisexualität (männ⸗ 
lich und weiblich in einer Person) beim Kinde noch nicht die 
Spannumg, die den Menschen später unruhig macht, um ihn 
erst im Greisenalter wieder zu verlassen. Hinderaugen blicken 
uns wie geschlechtslos — in unserem Zeitalter nennt man das 
auch: unschuldig — und ohne Sorgen an. Die Berechtigung 
des Wordes Spannung erweist/ sich, wenn man Totenmasken 
ansieht, deren Muskeln ihre Spannung verloren haben. Dem 
zur Unbefangenheit fähigen Blick des Beobachters wird selbst 
bei den Totenmasssken Goethes oder Beethovens auffallen, wie
	        
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