Volltext: Die Psychoanalyse [538/540]

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die Psychoanalyse als eine Mikroskopie der Seele, die merk⸗ 
würdige Zusammenhänge aufdeckt, von denen bislang nicht die 
Rede war. Wenigstens nicht in den Stuben der Soziologen, 
der beschreibenden Psychologen und anderer Wissenschaftler, 
in deren Fach es fiel, die Ehe als Einrichtung zu erklären. 
Dichter allerdings, des Gottes voll, haben ihre Genieblitze 
immer wieder bis zum Grund gesendet. Was aber ist ein 
Dichter? Ein Ahnender, der uns zum Feste lädt. Wenn der 
Vorhang fällt, ist unsere Erleuchtung zu Ende. 
Die Psychoanalyse hat festgestellt, daß es nur eine Art 
der Liebe gibt. Elternliebe — Kindesliebe — Geschlechtsliebe — 
Freundschaft — Berauschung irgendwelcher edler oder niedriger 
Art — Minne des Mystikers — Habsucht des Geizigen: es ist 
alles immer wieder das nämliche, so sehr das nämliche, daß 
man nicht einmal von verschiedener Erscheinungsform oder 
verschiedener Temperatur sprechen bann. Die Geschlechtsliebe 
hat vor den anderen Formen nur voraus, daß bei ihr das 
Wesen der Liebe als einer Verzweiung — so kann man den 
Trieb nach Vereinigung etwa nennen — am sinnfälligsten 
sichtbar wird. Die Geschlechtsliebe, vom tierischen Gesetz der 
Fortpflanzung abstammend, ist die formgebende Grundlage alles 
menschlichen Trachtens. Alles nämlich zielt auf Einverleibung 
oder, wie man eigentlich sagen sollte, auf Zweiverleibung. Der 
Mystiker will mit seinem Gott eins sein, der Säufer mit seiner 
Flasche. Wer liebte je, der nicht sein Lieb verschlucken wollte 
oder es zum Gott erheben, um es anzubeten? Die Hostie, die 
zwischen den Zähnen des Priesters kracht, ist der Leib Gottes, 
der in den Leib des Menschen dringt. Man nennt das gern 
symbolische Darstellung eines religiösen Gedankens. Vor Zeiten 
find blutige Kriege geführt worden zwischen denen, die in den 
angeblichen Symbolen Wirklichkeiten sahen, und denen, die sich 
so etwas nicht einreden lassen wollten. Die Psychoanalyse — 
dieses nur widerstrebend geduldete Weltkind — hat alle Ursache, 
die Einheit aller Liebe als Wirklichkeit anzusehen und nicht als 
Gleichnis. 
So bleibt ein Kuß ein Kuß, wer immer ihn gibt und ihn 
empfängt. Die Sprache hat das Wort Inbrunst nicht zufällig 
gebildet. Wir verbieten heute den Müttern, ihre Kinder zu 
fich ins Bett zu nehmen, wenn sie über das Säuglingsalter 
hinaus sind. Wir raten Eltern, ihre heranwachsenden Kinder 
in Gemeinschaftsschulen zu schicken, und sind für alle Fälle auf 
Milieuwechsel bedacht, wenn die Entwicklung des Kindes im
	        
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