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die Psychoanalyse als eine Mikroskopie der Seele, die merk⸗
würdige Zusammenhänge aufdeckt, von denen bislang nicht die
Rede war. Wenigstens nicht in den Stuben der Soziologen,
der beschreibenden Psychologen und anderer Wissenschaftler,
in deren Fach es fiel, die Ehe als Einrichtung zu erklären.
Dichter allerdings, des Gottes voll, haben ihre Genieblitze
immer wieder bis zum Grund gesendet. Was aber ist ein
Dichter? Ein Ahnender, der uns zum Feste lädt. Wenn der
Vorhang fällt, ist unsere Erleuchtung zu Ende.
Die Psychoanalyse hat festgestellt, daß es nur eine Art
der Liebe gibt. Elternliebe — Kindesliebe — Geschlechtsliebe —
Freundschaft — Berauschung irgendwelcher edler oder niedriger
Art — Minne des Mystikers — Habsucht des Geizigen: es ist
alles immer wieder das nämliche, so sehr das nämliche, daß
man nicht einmal von verschiedener Erscheinungsform oder
verschiedener Temperatur sprechen bann. Die Geschlechtsliebe
hat vor den anderen Formen nur voraus, daß bei ihr das
Wesen der Liebe als einer Verzweiung — so kann man den
Trieb nach Vereinigung etwa nennen — am sinnfälligsten
sichtbar wird. Die Geschlechtsliebe, vom tierischen Gesetz der
Fortpflanzung abstammend, ist die formgebende Grundlage alles
menschlichen Trachtens. Alles nämlich zielt auf Einverleibung
oder, wie man eigentlich sagen sollte, auf Zweiverleibung. Der
Mystiker will mit seinem Gott eins sein, der Säufer mit seiner
Flasche. Wer liebte je, der nicht sein Lieb verschlucken wollte
oder es zum Gott erheben, um es anzubeten? Die Hostie, die
zwischen den Zähnen des Priesters kracht, ist der Leib Gottes,
der in den Leib des Menschen dringt. Man nennt das gern
symbolische Darstellung eines religiösen Gedankens. Vor Zeiten
find blutige Kriege geführt worden zwischen denen, die in den
angeblichen Symbolen Wirklichkeiten sahen, und denen, die sich
so etwas nicht einreden lassen wollten. Die Psychoanalyse —
dieses nur widerstrebend geduldete Weltkind — hat alle Ursache,
die Einheit aller Liebe als Wirklichkeit anzusehen und nicht als
Gleichnis.
So bleibt ein Kuß ein Kuß, wer immer ihn gibt und ihn
empfängt. Die Sprache hat das Wort Inbrunst nicht zufällig
gebildet. Wir verbieten heute den Müttern, ihre Kinder zu
fich ins Bett zu nehmen, wenn sie über das Säuglingsalter
hinaus sind. Wir raten Eltern, ihre heranwachsenden Kinder
in Gemeinschaftsschulen zu schicken, und sind für alle Fälle auf
Milieuwechsel bedacht, wenn die Entwicklung des Kindes im