Volltext: Im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit (II. Band / 1929)

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II. Kapitel. 
Noch sträubten sich die beiden anderen politischen Parteien 
der Deutschen Österreichs, die Christlichsozialen und Deutsch¬ 
nationalen. Sie hingen mit ihren Gefühlen und vermeintlichen Inter¬ 
essen an dem alten Staatsgefüge, das ihnen eine Vorherrschaft über 
die anderen Nationen zu sichern schien. Sie konnten sich nur schwer 
entschließen, den entscheidungsvollen Schritt zum neuen Staate zu 
tun. Aber ihr Zögern half nichts. Die historische Notwendigkeit war 
stärker als die wehleidige Sentimentalität, die die Vergangenheit 
verklärend, dem Werden einer neuen Epoche hindernd in den Weg 
treten wollte. 
Am 21. Oktober traten im Wiener Landtagssaale die deutschen 
Reichstagsabgeordneten zur provisorischen National¬ 
versammlung zusammen. Das deutsche Volk Österreichs ent¬ 
schloß sich, wie es im ersten Beschluß der provisorischen National¬ 
versammlung hieß, „seine künftige staatliche Ordnung selbst zu be¬ 
stimmen und einen selbständigen deutschösterreichi¬ 
schen Staat zu bilden“. 
Während die Abgeordneten im Saale des alten Ständehauses 
tagten, wurde draußen die Straße lebendig. Die Arbeiter der äuße¬ 
ren Bezirke waren in die Innere Stadt gezogen. Eine spontane 
Massenkundgebung führte viele Zehntausende zusammen. Unter die 
Arbeiter mischten sich alsbald Soldaten; eine leidenschaftliche Ver¬ 
brüderung einte Volk und Eleer. Wohl versuchte das Militärkom¬ 
mando dem Einhalt zu tun, indem es eine Konsignierung der Garni¬ 
son anordnete. Aber die Soldaten der Garnison Wien folgten längst 
nicht mehr den Befehlen der kaiserlichen Offiziere. In den letzten 
Wochen war in den Wiener Kasernen eine geheime Militär¬ 
organisation entstanden, die nun, ohne einen ernsthaften 
Widerstand zu finden, die Befehlsgewalt an sich zog. 
Aus der Sorge, daß man die Soldaten Wiens gegen die Arbeiter 
Wiens einsetzen könnte, war unter der Führung von Julius 
Deutsch diese geheime Militärorganisation erwachsen. Nicht, um 
die Front zu gefährden oder die kriegerischen Ereignisse sonst 
irgendwie zu beeinflussen, hatten sich die Soldaten zusammen¬ 
gefunden, sondern lediglich, um ein drohendes Blutbad in der 
Reichshauptstadt zu verhindern*). Dieses Ziel ist auch tatsächlich 
erreicht worden. Daß es den habsburgischen Generalen nicht mehr 
möglich war, mit Militärgewalt aufzutrumpfen, daß sie daran ver¬ 
hindert wurden, im letzten Augenblick ein beispielloses Unglück 
*) Vergleiche: Julius Deutsch: „Aus Österreichs Revolu¬ 
tion“, Wien 1921. Seitp 4 bis 9. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung.
	        
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