Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15.-
287
brenuereien keineswegs nur von strategischen Erwägungen
leiten. Sie brechen eben ein, wo es etwas zu plündern
gibt, und so mußte auch Memel für wenige Tage unter
russischen Horden leiden.
Donnerstag, den 18. März, rückten die Russen, gleich
zeitig von Norden und Osten kommend, in mehreren Ko
lonnen gegen Memel vor. Es waren 7 Reichswehr
bataillone mit 6—8 älteren Geschützen, einige Reichswehr
eskadronen, 2 Kompanien Marineinfanterie, 1 Bataillon
Reserve (Regiment Nr. 270) und die Erenzwachtruppen
aus Riga und Libau, im ganzen etwa 6000 Mann. Der
schwache deutsche Landsturm mußte von der Grenze auf
Memel und schließlich auch durch die Stadt über das Haff
und die Nehrung zurückgehen. Die Russen brannten an den
Vormarschstraßen von Nimmersatt und Laugallen zahlreiche
Gebäude, vor allem Scheunen nieder. Im ganzen wurden
16 Ortschaften schwer geschädigt. Viele Einwohner, auch
Frauen und Kinder, wurden nach Rußland geschleppt, eine
Anzahl von ihnen erschlagen. Am Abend des 18. zogen
die Russen in Memel ein.
Am Freitag abend erschien der russische Kommandant im
Rathause, forderte den Oberbürgermeister und später noch drei
weitere Bewohner als Geiseln und ließ sie in die Kasernen
bringen, die von den Russen bereits in einen unglaublichen
Zustand versetzt worden waren. In den Straßen der Stadt
trieben sich plündernde Trupps russischer Soldaten umher,
nahmen Verhaftungen vor, drangen in die Häuser, zer
schlugen Ladenscheiben, plünderten und raubten Lebens
mittelgeschäfte, zwei Uhrmacherläden und einen Juwelier
laden vollständig aus. Der russische Kommandant, dem
das wüste Treiben seiner Leute anscheinend selbst un
geheuerlich schien, suchte Einhalt zu gebieten, indem er die
Plünderertruppen in die Kasernen zurückschicken und diese
sogar schließen ließ.
Am Samstag vormittag war die Stadt selbst bis auf
Patrouillen frei von russischen Soldaten. Am Samstag
abend zogen die Russen ab, nur einzelne versprengte Trupps
blieben in Memel zurück. Diese wollten bereits ihre Ge
wehre auf dem Rathause abliefern, als am Sonntag nach-
mittag von neuem stärkere russische Trupps von Norden
her in die Stadt einrückten. Sie stießen in Memel bereits
auf deutsche Patrouillen, denen stärkere deutsche Truppen
von Süden her folgten. Ein energischer Angriff, bei dem
sich das Bataillon Nußbaum vom Ersatzregiment Königs
berg besonders auszeichnete, warf die Russen hinaus. Bei
dem heftigen Straßenkampf verloren die Russen etwa
150 Tote. Beim Zurückgehen riß der Gegner die nach
kommenden Verstärkungen mit in die Flucht. Die Geiseln
waren beim Herannahen unserer Truppen unter Bedeckung
nordwärts abgefahren. Bei Königswäldchen blieb der
Wagen stecken. Die Bedeckungsmannschaften flüchteten.
Die verhafteten Bürger suchten nach Memel zurückzukom
men. Die Russen flohen, ohne Widerstand zu leisten, und
wurden am 22. und 23. energisch verfolgt. Besonders beim
Durchmarsch durch Polangen erlitten sie durch das Geschütz-
feuer unserer Kreuzer, die sich an der Verfolgung beteiligten,
schwere Verluste. Es fielen rund 510 Gefangene, 3 Ge
schütze, 3 Maschinengewehre und Munitionswagen in unsere
Hände. Die Russen hatten etwa 3000 Bewohner des Kreises
Memel mitgeschleppt, die wir ihnen aber auf der Verfol
gung wieder abnahmen. Bei den deutschen Truppen, die
Memel säuberten, befand sich der jüngste Sohn unseres
Kaisers, Prinz Joachim von Preußen. Er wurde überall,
wo er erkannt wurde, von der Bevölkerung freudig begrüßt.
In Petersburg suchte man die Schande des tatarischen
Raubzuges auf Kreis und Stadt Memel abzuschwächen
durch die Behauptung, daß die Bevölkerung Widerstand
geleistet habe. Wie man bei deren friedfertigem Charakter
von vornherein annehmen durfte, war diese russische Er
klärung eine glatte Erfindung, die aufs neue bewies, daß
man sich auch in Petersburg nachträglich der ganzen Un
geheuerlichkeit dieses Unternehmens, das in der Geschichte
der Kultur kaum seinesgleichen hat, bewußt wurde. Es
gab zu viele Zeugen, die die Kunde von den Grausamkeiten
dieser Barbaren in alle Welt hinaustrugen.
Das „Memeler Dampfboot" vom 24. März brachte
einen zusammenfassenden Bericht über den Einfall der
Russen, der so anschaulich und in seinen Einzelheiten so
überzeugend wirkt, daß wir ihn unseren Lesern in Ergän
zung der von uns mitgeteilten Tatsachen nicht vorent
halten wollen. i
„Kurz vor der Invasion der russischen Horden wurde
Memel noch in einer der größten deutschen Zeitungen als
,die friedliche Ecke* bezeichnet. Lange, monatelang war
unsere Kreisgrenze nur den Angriffen schwacher russi
scher Truppen ausgesetzt. In den Februar- und März
wochen häuften sich die Angriffe, und die Gefechte wurden
heftiger. Schließlich hatten die Russen große Streitkräfte —
es sind schätzungsweise 6000 Mann gewesen — zusammen
gezogen, um Memel in ihre Hand zu bekommen. Am
Mittwoch, den 17. März, wurde der Anmarsch durch die
ausgestellten Feldwachen gemeldet, am Donnerstag er
dröhnte Kanonendonner, verwundete deutsche Soldaten
wurden häufiger durch die Stadt gebracht. Die Lage der
Verteidigungsmannschaften ward immer schwieriger und
der Verteidigungsring um die Stadt immer enger. Ihren
Weg zeichneten die Russen durch Brand. Der ganze Kreis
Memel ist von diesen Barbarenhaufen niedergesengt,
Phot. A. Grohs, Berlin»
Wechseln der Schützengräben in der Abenddämmerung.