Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Zweiter Band. (Zweiter Band)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. 
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Von den französischen Geschossen wurde auch die aus 
der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammende Frauen 
kirche -— Notre-Dame — getroffen. Sie erhebt sich am 
Fuß der Kalksteinfelsen, die von der alten Zitadelle gekrönt 
sind. Im frühgotischen Stil erbaut, zeigt sie daneben auch 
Formen aus der Übergangszeit,' neuerdings ist sie aus 
gebessert worden. Zwischen den beiden Steintürmen stand 
ein barocker Elockenturm aus Holz. Diesen sowie das Dach 
der Kirche schossen die Franzosen in Brand. Die zer 
schmelzenden Glocken durchschlugen die Spitzbogenwölbung 
des Schiffes und stürzten auf den Fliesenbelag des Fuß 
bodens, der zertrümmert wurde. Die Sakristei wurde eben 
falls in Brand gesetzt. Die darin aufbewahrten Wachskerzen 
ergossen sich als feuriger Strom in das Kircheninnere, aber 
es brannten nur einige Stühle an. Die Beschädigungen 
sind daher nicht allzu beträchtlich. Die wertvollsten Stücke 
der Kathedrale blieben verschont. So ist die Seitenkapelle 
mit dem romanischen Taufstein erhalten und wunderbarer 
weise auch das 112 Quadratmeter messende moderne Glas 
gemälde eines Fensters, das das größte seiner Art in 
Belgien ist. 
Der Kampf um das Gehöft. 
(Hierzu das Bild Seile 212,'213.) 
In fesselnder Weise schildert Charles Tardieu, ein Re 
dakteur des „Figaro", der als Unteroffizier in der Front 
steht, in seinem Blatte eine Episode aus den blutigen 
Kämpfen in der Champagne. Eine endlose Winternacht 
liegt hinter uns, schreibt er° Wir 
haben sie auf dem Bahnkörper, auf 
spitzen und holprigen Steinen lie 
gend, zugebracht. Gegen sieben Uhr 
dringen gedämpfte Stimmen und das 
Klirren der Bajonette an unser Ohr. 
Wir wissen nicht, ob wir zwei Stun 
den oder nur zwei Sekunden ge 
schlafen haben. „Auf!" erschallt der 
Kommandoruf. Vergessen ist die 
lange Nacht, vergessen das harte 
Steinlager auf dem Bahndamm. Wir 
ziehen im Gänsemarsch dahin, auf 
schmutzigen Pfaden, die Pfeife iui 
Munde und ein Scherzwort auf den 
Lippen. „Heute wird's warm, Kin 
der!" sagt ein Spaßvogel. „Nume 
riert eure Knochen!" Ein neuer 
Kommandoruf: „Halt!" Jetzt wirlLs 
ernst. Ein paar deutsche Granaten 
fliegen über unsere Köpfe hinweg, mit dem Geräusch 
rollender Förderkarren. Und jetzt beginnen auch unsere 
Geschütze ihren Morgengesang. Vor uns liegt eine weite 
Ebene, eine endlose Reihe von Rübenfeldern; hier und 
da sind kleine Erlenbüsche und Ulmen zu sehen. Auch 
eine Landstraße schneidet das Gelände. Links, am Rande 
dieser Landstraße, sieht man ein paar stattliche Gebäude, 
die von einem Mauerrechteck eingeschlossen sind: es ist 
das Gehöft von M. Die Deutschen haben sich dort ein 
genistet, und wir sollen sie daraus vertreiben. Zögernden 
Fluges kreisen deutsche „Tauben" über dem Gelände. Hat 
man uns vielleicht schon entdeckt? Die schweren deutschen 
Geschütze bestreichen planmäßig ein in unserer Nähe be 
findliches kleines Gehölz; die Geschosse schlagen aber glück 
licherweise etwa 300 Meter hinter uns ein. Man befiehlt 
uns, mit den Zuaven und den Schützen vereint vorzugehen. 
Wir schauen einander an, ernst und ein bißchen nervös. 
Das Lachen ist uns vergangen, und es wagt niemand mehr 
zu scherzen. Man öffnet die Patronenpäckchen, prüft den 
Eewehrverschluß, sichert Bajonett und Tornisterriemen. 
Obwohl wir die Eigenart dieser spannungsvollen Minuten 
bereits zur Genüge kennen, fallen sie uns doch auf die 
Nerven, was unsere Blicke, unsere Worte, unsere Be 
wegungen verraten. Wir begeben uns nicht zum erstenmal 
in Gefahr, aber selbst die Verwegensten unter uns er 
innern sich in solchen Augenblicken der vertrauten Gesichter 
einstiger Kameraden, dfe nun für immer verschwunden sind. 
Und jeder fragt sich, wer von den jetzigen Kameraden wohl 
bereits unsichtbar vom Tode gezeichnet ist. Vielleicht 
rauchen jetzt einige unter uns ihre letzte Pfeife, ihre letzte 
Zigarette. 
Endlich kommt der Befehl zum Vorrücken. Die Pa 
trouillen — Zuaven und algerische Schützen — schwärmen 
aus. Die deutschen Geschütze bestreuen immer noch das 
Gehölz. Eine Feldbatterie, die zu unserer Rechten auf 
gefahren ist, fällt in den Chorus ein. In den Haupt 
quartierberichten heißt das: Artillerieduell. Eine Pa 
trouille gibt uns schließlich das Zeichen, daß ein 600 bis 
600 Meter entferntes Gehölz unbesetzt ist, und wir treten 
auf einen Pfiff aus unserer Deckung hervor. Im Laufschritt 
stürmen wir ins offene Gelände hinaus, flankiert von roten 
Zuaven und weißen algerischen Schützen. Das Geschütz 
feuer nimmt von Minute zu Minute an Heftigkeit zu. Man 
hat drüben unser Hervortreten aus dem Walde bemerkt, 
denn dort, wo wir soeben erst gestanden haben, schlagen 
bereits Granaten ein. Und dann platzen sie dicht über 
unseren Köpfen. Wir werfen uns platt auf die Erde. 
Leider zu spät. Ringsumher ertönt bereits das Stöhnen 
und Jammern der Getroffenen. Da wälzt sich einer mit 
zerschmettertem Bein auf der Erde. Andere werden nie 
wieder aufstehen, ihre Köpfe, ihre Leiber sind in Stücke 
gerissen. Man muß die armen Opfer liegen lassen. Unsere 
Herzen sind längst abgehärtet, und das blutige Schauspiel 
läßt uns beinahe gleichgültig. Nur einen Augenblick legt 
es sich wie Flor um unsere Augen, dann krampfen sich unsere 
Fäuste fester um den Gewehrgriff. Außer Atem erreichen 
wir endlich den Waldsaum ... 
Das Gehöft liegt vor uns, und in verschwindender Ferne 
erkennen wir die Höhenzüge, von denen herab die deutschen 
Geschütze Tod und Verderben speien. Scheinbar verödet 
liegt der Pachthof dort drüben; doch 
zwischen uns und ihm liegen, kaum 
wahrnehmbar, die langgestreckten 
deutschen Schützengräben. Mühelos 
werden wir das Gehöft nicht be 
kommen. Schon wieder kreist eine 
„Taube" dicht über uns. Plötzlich 
läßt sie eine Feuergarbe fallen, und 
nach zwei Minuten sendet uns auf 
dieses Zeichen hin eine deutsche Bat 
terie ihre warmen Grüße. „Die 
Marinesoldaten vor!" schreit unser 
Hauptmann. Zischend sausen uns 
die feindlichen Gewehrkugeln ent 
gegen. Geduckt stürmen wir über 
das freie Gelände hin. Wie tausend 
Bienen schwirrt es um unsere Ohren. 
Hinter uns fallen mächtige Granaten 
mit entsetzlichem Getöse ein. Unauf 
hörlich grollt der Donner der Ge 
schütze, die Kugeln pfeifen, in zerstäubenden Schollen 
wirbelt die zerwühlte Erde auf. Wie Feldhasen hasten 
die Zuaven zu unserer Linken weiter, während zur Rechten 
die algerischen Schützen, seltsame Kehllaute ausstoßend, 
sich an uns anschmiegen. Plötzlich schlagen dicht beim Ge 
höft auf der Landstraße ein paar Granaten ein. „Aha! 
Nun beginnen unsere Geschütze sich zu melden!" mein! 
mein Nachbar. „Auf! Marsch, marsch!" ruft unser Haupt 
mann, dessen Arm durchschossen und eben notdürftig ver 
bunden worden ist, indem er sich vom Boden erhebt. In 
diesem Augenblick sinkt er, von drei Kugeln getroffen, in 
die Knie. Er versucht noch einmal den Degen zu ziehen, 
wendet uns sein blutüberströmtes Antlitz zu und feuert 
uns zum Sturm an. Dann stirbt er. Der Leutnant springt 
vor. Ein Stöhnen ringt sich aus aller Brust, und wie wahn 
sinnig stürmen wir vor. Granaten, Schrapnelle, Gewehr 
kugeln schlagen hageldicht in unsere Reihen ein und reißen 
klaffende Lücken. Viele fallen, ohne nur einen Schrei 
ausgestoßen zu haben, wie vom Blitz getroffen. Andere 
wälzen sich wehklagend in ihrem Blut, wieder andere 
brechen mit einem Fluch zusammen. Man hat das Ge 
fühl, in einem Netz von Eisen und Blei vorzudringen, in 
mitten eines Schwarmes stechender Bienen. Auch der 
Leutnant fällt. „Halt!" kommandiert der Offizierstell 
vertreter. Nach Luft schnappend, werfen wir uns auf die 
Erde. Wie viele mögen wohl gefallen sein? Niemand 
weiß es, und niemand kümmert sich darum. Wir sind außer 
Atem, in Schweiß gebadet, die Kehle ist wie ausgetrocknet, 
die Nerven dampfen sich in fürchterlicher Spannung, der 
Puls klopft und hämmert, die Ohren sind von einem be 
täubenden Brausen erfüllt. Und immer noch toben die 
1. 8-Geschoß des deutschen Gewehrs 98. 2. U-Geschost 
der Franzosen. 3. Halbmantelgeschos; mit nackter Blei- 
spitze. 4. Französisches U-Geschoß, maschinell hergestellt.
	        
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