Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Sechster Band. (Sechster Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/17. 
Geht ein Teil einer größeren Gruppe zurück, ohne daß 
die Eesamtabsicht sich ändert, lediglich zu dem Zwecke, bes 
sere Kampfverhältnisse zu gewinnen, so ist ein solches Ver 
fahren ein taktischer Rückzug; geht aber, eine Gesamtheit 
zurück, um eine Aufgabe, die ihr gestellt ist, auf andere 
Art und in anderer Gruppierung zu lösen, so handelt es 
sich um einen strategischen Rückzug. 
Hindenburg hat durch die Zurücknahme von Teilen der 
deutschen Westfront offenkundige Vorteile errungen. 
Die deutschen Truppen sind zum großen Teil aus stark 
zerschossenen in ganz neue, mit allen Mitteln permanenten 
Festungsbaues errichtete Stellungen gelangt. Das erleichtert 
die Verteidigung und erspart Truppen, weil es immer als 
Regel anzusehen ist, daß je besser eine Stellung ist, desto 
weniger Truppen zu ihrer Verteidigung nötig sind. 
Eine weitere Ersparung an Truppen ist auch dadurch 
erreicht worden, daß die neue Front, die, ganz allgemein ge 
sprochen, in der Linie Lens—St. Quentin—La-on läuft, die 
Sehne des Bogens Arras—Royon—Caissons—Reims dar- 
Eeschick diesen Rückzug ausgeführt haben, zwischen sich und 
den Gegner eine völlig kahle, völlig zerstörte Zone ließen. 
Der Feind fand keine Unterkunft, kein Wasser, keine Deckung, 
keine Transportmöglichkeit. Dadurch und durch zäh fest 
haltende, wenn auch schwache Nachhuten wurde sein Nach 
gehen noch mehr verlangsamt, der Zweck des Zeitgewinns 
in noch höherem Maße erreicht. i 
Die Wirkung auf den Gegner war doppelt. Jeder 
Rückzug erzeugt im Feinde zunächst das Gefühl der Er 
leichterung und erhöht seine Stimmung. Das konnte auch 
hier nicht vermieden werden. Namentlich in der Presse fand 
dieses Gefühl in Frankreich einen ganz gewaltigen Ausdruck. 
Auch in der französischen und wohl auch in der englischen 
Armee entstand das Gefühl des Sieges, das ganz natürlich 
von der Führung gepflegt und gehegt wurde. 
Diesem Massengefühl widersprechend und entgegen 
gesetzt, war das Gefühl bei der feindlichen Führung von 
Anfang an mehr das der Verlegenheit. Besonders die 
führungstechnisch wenig geschulte englische Armee, die den 
Denkn, alsenthüllung auf dem Heldenfriedhof Vieville-sous-les-Cotes, auf dem über 1000 Gefallene ruhen. 
stellt und als solche ganz wesentlich kürzer ist. Kürzere Fron 
ten sind aber mit weniger Kräften zu halten als längere. 
Diesen wesentlichen Erleichterungen der eigenen Auf 
gabe stehen nun beträchtliche Erschwerungen der feindlichen 
gegenüber. Engländer und Franzosen waren zum doppel 
seitigen Angriff mit den ungefähren Hauptrichtungen 
Peronne—St. Quentin (Engländer) und. Soissons—Laon 
(Franzosen) bereit. In dem Augenblick, in dem ihr er 
hobener Arm niedersausen sollte, wich Hindenburg aus. 
Im modernen Stellungskrieg kann ein Angriff nicht so 
einfach vor sich gehen wie im Feldkrieg — er bedarf wochen-, 
ja monatelanger Vorbereitung. Der ganze riesige Apparat 
der Befehlsübermittlung muß neu geschaffen werden, die 
Truppen müssen in der Sturmstellung eingerichtet sein, die 
Artillerie muß ebenfalls in weit vorgezogenen Stellungen 
bereit und mit riesigen Munitionsmengen versehen sein. 
All das war vor den alten deutschen Stellungen bereits in 
vollendeter Weise fertig. - Nun mußte diese ganze Vorbe 
reitung noch einmal vom Feinde vor der neuen deutschen 
Stellung bewerkstelligt werden. 
Dazu kam, daß die Deutschen, die mit meisterhaftem 
Deutschen nördlich von der Querlinie Ham—St. Quentin 
folgte, wußte sich mit der veränderten Sachlage nicht ab 
zufinden. Sie ging nur zögernd und in steter Angst vor 
Fallen Hindenburgs vor, während sich die ungleich ge 
wandtere französische Armee der neuen Lage gegenüber 
wesentlich geschiÄer erwies. — Die deutschen Truppen 
haben in der Sicherheit, daß Hindenburgs Rückzüge nur 
Vorbereitungen eines Sieges sind, von den moralischen 
Schädigungen, die fast allen Rückzügen anhaften, nichts ver 
spürt. Die Erinnerung an ähnliche, den Sieg vorbereitende 
Rückzüge in Polen war wirksamer als die äußere Erschei 
nungsform gegenwärtigen Handelns. Die gleiche merk 
würdige, psychologische Rückwirkung zeigte sich auch in der 
Masse des deutschen Publikums. Die Armeen überließen 
mehr als 2000 Quadratkilometer dem Feind, und ganz 
Deutschland jubelte über diese Tatsache, betrachtete sie als 
einen Sieg und schätzte sie ein wie eine gewonnene Schlacht. 
Und das nicht etwa, weil die Allgemeinheit die Ursachen 
und die taktisch-strategischen Vorteile dieser Bewegung er 
kannt oder gewürdigt hätte, sondern nur aus dem ein 
zigen Grunde, weil Hindenburg es so angeordnet hatte.
	        
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