Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Neunter Band. (Neunter Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/19. 
Die Franzosen in Wiesbaden. 
Aufziehen der Wache vor dem früheren Kgl. Schloß, dem Sitz des französischen Kommandanten von 
sie betroffen habe, zu tragen wissen werde. Der fran 
zösische General soll, so wird verbürgt erzählt, erstaunt 
gefragt haben: „L'est tout?" 
Den ersten Tagen einer sich in engen Grenzen haltenden 
Neugier folgte bald die Verärgerung über die den Ver 
kehr und das Eeschäftsleben einschnürenden Verordnungen, 
und im Alltagsleben der Paß- und Meldevorschriften, deren 
strenge allgemein für unverständlich und schikanös gehalten 
wird, nahm die 
Zurückhaltung im 
Benehmen der 
Einwohner nur 
noch zu. Die Of 
fiziere selbst, die 
sich in den ersten 
Gasthäusern und 
in Villen gut ein 
quartiert haben, 
äußern sich, daß 
sie sich in Mainz 
weit wohler füh 
len, und daß sie 
es deutlich emp 
finden , hier in 
Preußen und un 
ter Preußen zu 
leben. 
Auf dein Dach 
des Schlosses weht 
an der schwarz 
weißen Fahnen 
stange , die noch 
die Kaiserkrone 
ziert, die mächtige 
Trikolore. Die 
Räume, in denen 
einst der Kaiser seine Feste feierte, in denen dann nach 
der Revolution der Arbeiter- und Soldatenrat seine Tä 
tigkeit entfaltete, sind zu französischen Militärbüros um 
gewandelt worden. Die Stadt hat ihnen mit kostbaren 
Teppichen, Vorhängen und geeigneten Möbeln eine neue 
Ausstattung geben müssen. Sonst sind die Lasten durch 
die Requisition nicht allzu groß, nur die Wegnahme 
eines großen Teils der kostbarsten Lebensmittel, wie 
Milch, Butter und Fleisch, macht sich stark fühlbar. Die 
Hoffnung, daß man von den guten Dingen, die die Fran 
zosen zum Essen 
und Trinken mit 
sich führen, Nutzen 
haben werde, hat 
sich bisher nicht 
erfüllt. Ein paar- 
junge Dinger nur, 
die viel Talent 
zum Flirten, aber 
wenig keusche 
Strenge besitzen, 
haben von dem 
lockenden Angebot 
„Chocolat, made- 
moiselle , et pro- 
menade“ ihren 
Vorteil. Auch die 
Scharen armer 
Kinder, die sich 
in die Kasernen 
drängten, sind mit 
weißem Brot und 
Konserven von den 
Poilus reich be 
schenkt worden, 
und geschäftige 
Filmoperateure, die die Besahungstruppen begleiten, 
haben dies Schauspiel für die Pariser Kinos gern fest 
gehalten. 
Das Kurleben erleidet bei der völligen Absperrung der 
Stadt den schwersten Nachteil. Die Fremdenliste wird von 
Tag zu Tag kleiner, und Gasthäuser und Fremdenheime 
stehen leer. Zwar hat der französische Kommandant das 
feierliche Versprechen gegeben, „daß das wirtschaftliche 
Leben der Stadt baldigst seinen üblichen Gang wird wieder 
aufnehmen können", doch scheinen die Worte nur so ge 
nreint zu sein, daß vor allem die Familien der fremden 
Offiziere, für die bereits zahlreiche Gasthäuser bereitgehalten 
werden, an den heißen Quellen in den kommenden Lenz 
tagen Erholung suchen wollen. Das Bild auf den Straßen, 
die neue Schilder mit französischen Namen bekommen haben, 
ist trotz der Leere der Stadt brmt belebt. Auf der Wilhelm 
straße lustwandeln 
in lebhafter Un 
terhaltung die Of 
fiziere, Franzosen 
und Amerikaner; 
sie finden so wenig 
Beachtung, daß 
ein Kommandan 
turbefehl die Be 
völkerung zu ach 
tungsvollerem 
Entgegenkommen 
mahnen zu müssen 
glaubt. Echte Pa 
riser Zeitungsver 
käufer rasen die 
Straßen entlang 
und preisen den 
„Matin" und das 
„Echo de Paris" 
an,"die Zeitungen 
werden, da man 
keine deutschen er 
langen kann, viel 
gekauft. Auch nur 
„Kriegsersatz" für 
Wiesbaden. unsere deutsche 
Presse. Im Kur 
haus, dessen gute Konzerte die Franzosen mit Vorliebe be 
suchen, und in den Theatern bilden sie — bei freiem Ein 
tritt — allabendlich einen starken Teil des Publikums, aber 
nie wird man sie sich am Beifall beteiligen sehen. Im ehe 
maligen Hoftheater haben täglich zweihundert Plätze den 
Abonnenten genommen werden müssen, da die Franzosen 
sie beanspruchen, und so wird die Finanzlage der Bühne, 
die ohnehin aufs schwerste durch den Wegfall des Zuschusses 
der Krone gefährdet ist, immer unsicherer. Das prunkvolle 
Haus wählen sie gern für ihre Sonderfeste, und ein Armee 
theater mit Nackt 
tänzerinnen und 
Komikern, die in 
ihren Versen die 
Vernichtung der 
Boches besingen, 
veranstaltet ab und 
zu hier seine Vor 
stellungen. Aber 
auch die heimischen 
Kräfte werden 
„eingeladen", vor 
den Offizieren Un 
terhaltungsabende 
zu geben. 
Die Besetzung 
hat der Kurstadt, 
die sich im Dien 
ste. der leidenden 
Menschheit mit 
Recht die „inter- 
Die Franzosen in Wiesbaden. 
Antreten vor dem Rathaus. 
nationale" nannte, 
schwere Pflichten 
auferlegt, die sie 
wohl mit Tatkraft 
und Würde erfüllt, 
aber auch mit einem wohl zu verstehenden Schmerz. Ist 
ihr doch die stolzeste Hoffnung genommen, die Hoffnung 
auf eine einträgliche Hochsaison nach Beendigung des großen 
Völkerkrieges. Sie glaubte, von ihren Heilmitteln denen 
vor allem spenden zu können, die ihre deutsche Heimat 
schützten, glaubte, ihren Wert durch ihre Wohltaten um 
einige Grade noch zu steigern, und muß nun dienen ohne 
Lohn und ohne Freude.
	        
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