Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Neunter Band. (Neunter Band)

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Illustriere Geschichte des Weltkrieges 11)34/19. 
nicht so ohne weiteres in festen Stellungen untergebracht 
werden; deswegen wuchs das Heer der Arbeitslosen in 
England von Tag 311 Tag. 
Die ganz ähnliche Lage der Verhältnisse in den Ver 
einigten Staaten gab Wilson Veranlassung, sich, 
wie das hauptsächlich Frankreich wünschte, ebenfalls an 
der Niederringung des Bolschewisinus zu beteiligen. In 
Westeuropa, vor allem in Deutschland, wollte er den Bolsche 
wismus , dessen Hauptschürer Karl Radel (siehe Bild 
Seite 435) wieder in Berlin aufgetaucht war, durch Be 
schaffung von Arbeitsgelegenheit und Lieferung von Le 
bensmitteln bekämpfen. Mit dem russischen Bolschewismus 
suchte er Frieden durch Verhandlungen, indern er alte rus 
sischen Staaten zu einer Zusammenkunft auf den Prinzen 
inseln vor Konstantinopel (siehe Bild Seite 440 oben) ein 
lud. Der Erfolg dieses Schrittes erschien zweifelhaft. Keine 
russische Regierung wollte mit den Bolschewiki verhandeln, 
zurnal es gelungen war, ihnen erhebliche militärische Schwie 
rigkeiten zu bereiten. Denikin machte im Kaukasus Fort 
schritte, Folischak fügte den Bolschewiki bei Perm eine 
schwere Niederlage zu, und deutsche, schwedische, finnische 
und lettische Freiwillige ge 
wannen gegen die bolschewisti 
schen Truppenin Estland Raum. 
Trotz der Erfolge vieler 
verstreuter Heerhaufen gegen 
die Bolschewik! begannen diese 
für Deutschland gegen Ende 
Januar eine große Gefahr zu 
werden. Die zurückziehenden 
deritscheir Armeen im Osten, 
die 8. und die 10., standen 
ganz unter der Herrschaft mili 
tärisch völlig leistungsunfähiger 
und einflußloser Soldatenräte. 
Sie hatten die Bolschewiki am 
31. Januar irr die Linie Libau— 
Dubissa—Kowno vorrücken 
lassen mrd pflegten mit ihnen 
Verhandlungen, die den Bol 
schewiki zwar viel erwünschtes 
und wertvolles Kriegsgerät, 
den Deutschen aber nicht den 
erstrebten freien Abzug brach 
ten. Es war ersichtlich, daß 
nur neue, kriegstüchtige Trup 
pen imstande sein konnten, dem 
weiteren Vordringen der Rus 
sen Einhalt zu gebieten. Dieser 
Erkenntnis verschloß man sich 
in Deutschland auch nicht. 
Freiwillige wurden aufgerufen, 
lind Hindenburg wurde zum 
Führer des östlichen Grenz 
schutzes ernannt. Aber nicht 
nur die Bolschewiki-, sondern auch die Polengefahr wuchs 
an den Grenzen der deutschen Ostmark, soweit diese 
überhaupt noch i,i deutscher Hand war (siehe die Bilder 
Seite 440 und 441 sowie den Sonderbericht Seite 439). 
Auch dieser Gefahr nrußte jetzt ernstlich entaegengetreten 
werden. Darüber war sich anscheinend die "Berliner Re 
gierung klar geworden, die durch ihr untätiges Verhalten 
den Polen erst Gelegenheit zu dem Einfall in ostdeutsche 
Gebiete gegeben hatte, denn sie lehnte die Einstellung 
weiterer Angriffsvorbereitungen ab, als polnische Unter 
händler in Berlin eintrafen. 
Sowohl die fast überall ungestört verlaufenden Wahlen 
zur ersten deutschen Reichsversammlung (siehe die Bilder 
Seite 436 und die Kunstbeilage), die in Weimar tagen 
sollte, als auch jene zur preußischen Landesversammlüng 
hatten erwiesen, daß die überwältigende Mehrheit des 
deutschen Volkes deir kommunistischen Weltrevolutionsver- 
stichen völlig fernstand. Die Unabhängigen, die nächsten 
Freunde der Spartakisten, die sich nicht an der Wahl be 
teiligten, sondern wie zum Beispiel in Leipzig auf dem 
Augustusplatz große Scheiterhaufen zum Verbrennen der 
Wahlzettel errichteten (siehe Bild Seite 437), blieben im 
Reich und in Preußen in verschwindender Minderheit; 
selbst die als weitaus stärkste Partei in das deutsche und 
in das preußische Parlament einziehenden Mehrheitssozia 
listen konnten mit ihnen leine rein sozialistische Mehrheit 
bilden. Sozialisten und Bürgerliche waren auch inr neuen 
Deutschland auf Zusamnrenarbeit angewiesen. Die Re 
gierung war entschlossen, dieses Ergebnis der Wahlen zr> 
achten rrnd sich ihnr zu fügen. Die Unabhängigen da 
gegen drohten mit neuen Schwierigkeiten. Doch in Berlin 
standen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit gut aus 
gerüstete Truppen irr großer Anzahl bereit (siehe die Bilder 
Seite 439), was am 28. Januar, dem Tage der Beerdigung 
des Spartakistenführers Karl Liebknecht, der, ebenso wie 
Rosa Luxemburg, nach der Verhaftung auf unaufgeklärte 
Werse anr 16. Januar nachts ums Leben kam (siehe die 
Bilder Srite 435 oben), besonders augenfällig wurde. 
Auch sonst inr Reich ging es den Spartakusanhängern 
nicht nach Wunsch. Ihre Republik Curhaven mußten sie 
„rückgängig" machen rrnter der Wirkung eines Streikes 
der Beamtenschaft; die kommunistische Republik Bremen 
wurde durch Geldverweigerung ausgehungert; ein Sparta- 
kistenaufstand in Wilhelrnshaven wurde blutig nieder 
geschlagen, und zur Niederwerfung des sich in Bremen 
bemerkbar machenden Widerstandes gegen die Jnstand- 
setzungund das Auslaufen deut 
scher Handelschiffe für die Le 
bensmittelbeschaffung rückten 
freiwillige Truppen unter Ros 
tes Oberbefehl gegen Bremen 
vor. Trotzdem bot Deutschland 
aber noch immer ein Bild trau 
riger Verwirrung. Die Arbeiter 
waren teilweise geradezu von 
einem Streitfieber erfaßt, das 
das gesamte Wirtschaftsleben 
Deutschlands lahmzulegen be 
gann. Infolge der Kohlen- 
arbeiterausstände ruhten in 
zahlreichen deutschen Städten 
zu Ende Januar viele der 
größten und zurzeit wichtigsten 
Betriebe; die Heere der Ar 
beitslosen schwollen zu Hun 
derttausenden an. 
Daß Deutschland nun in 
der Tat am Rande des Ab 
grunds stand, verhehlte man 
sich auch nicht in der Zusam 
menkunft der Vertreter der 
deutschen Staaten, die an, 
25. Januar in Berlin unter 
dem Vorsitz Eberts die Bera 
tungen über eine vorläufige 
deutsche Reichsverfässung auf 
nahmen. Sie einigten sich 
auf einen Gesetzentwurf über 
die vorläufige Reichsgewalt, 
der der Reichsversammlung in 
Weimar zunächst einmal die Arbeitsaufnahme ermöglichen 
sollte. Danach sollte neben der „Nationalversammlung" 
ein Staatenausschuß, der frühere Bundesrat, mittätig und 
in Eebietsfragen mitentscheidend sein. Auch Gesetze sollten 
nur Wirkungskraft erhalten, wenn sich die beiden Körper 
schaften einigten; in Fällen der Nichtübereinstimmung wollte 
man dem Volk die Entscheidung überlassen. Die National- 
versammlung sollte auch den Reichspräsidenten mit ein 
facher Stimmenmehrheit wählen können. 
Deutsch-Österreich erhielt nach dem Gesetzentwurf bis 
zu seinem Anschluß an das Deutsche Reich beratende Stimme, 
später sollte durch ein Gesetz die Zahl seiner Stimmen im 
Staatenausschuß festgelegt werden. Die innere Lage Öster 
reichs begann sich zu festigen, nachdem durch Hilfe der Schweiz 
und der verbündeten Gegner, die ihren Einzug in Wien ge 
halten hatten, eine leichte Besserung der Lebensmittelver 
sorgung eingetreten war (siehe die Bilder Seite 442 und 443). 
Das Land fühlte sich auch gegen die Tschechen sicherer. 
Eine amerikanische Abordnung, die nach Mitte Januar 
Deutsch-Böhmen besuchte, ließ die Tschechen nicht darüber 
inr Zweifel, daß ihre Eewaltmaßnahmen gegen die Deutschen 
rückgängig gemacht würden, denn Deutsch-Böhmen werde 
sein Selbstbestimmungsrecht erhalten. Ebenso wie die 
Deutschböhmen waren auch die Deutschösterreicher niemals 
die Angreifer, sondern stets die Angegriffenen, die sich 
Phot. Seebald, Wien. 
Nichtuniformierte Wachtposten in Wien.
	        
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