Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Neunter Band. (Neunter Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
Phot. Lichtbildstelle des k. u. k. Kriegspressequartiers. 
Italienische KulturtaLen im eigenen Lande: Von den Italienern zerstörtes Schloß in Conegliano. 
die Schuld an dein zu späten Einschreiten der Polizei traf. 
Zweifellos war die italienische Regierung in erster Linie 
für die Ausschreitungen verantwortlich, denn sie hatte nicht 
für ausreichenden Schutz des Botschaftergebäudes gesorgt. 
❖ * 
* 
In Rußland ereignete sich ein empörender Vorfall. Am 
Nachmittag des 6. Juli kurz vor drei Uhr gelang es zwei 
Mitgliedern der von der Sowjetregierung eingesetzten 
„Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution, Sa 
botage und Spekulation", die mit ihren großen Voll 
machten eine neue Form der verflossenen Ochrana dar 
stellt, sich auf Grund gefälschter Papiere Zutritt zu der 
Person des Chefs der Deutschen diplomatischen Mission 
in Moskau, Grafen Mirbach (siehe Bild Seite 28), zu ver 
schaffen. Die Besucher, die in einem Automobil vor- 
gesahren waren, gaben vor, beauftragt zu sein, den Grafen 
vor einem gegen ihn geplanten Attentat zu warnen. Die 
Unterredung hatte kaum begonnen, als die beiden Männer, 
Blumkin und Alerandrow, Browningpistolen aus der Tasche 
zogen und auf den Grafen sowie auf den ebenfalls an 
wesenden Botschaftsrat Riezler und den als Dolmetscher 
dienenden Leutnant Müller sechs Schüsse abgaben, die sämt 
lich ihre Ziele verfehlten. Der siebente Schuß erreichte 
den Bolschewiki ausgehend, sondern als gegen sie selbst ge 
richtet zu betrachten. 
In der Tat lag kein Anlaß für die Vermutung vor, daß 
die Bolschewiki die Urheber des Überfalls waren; denn die 
Beziehungen der Räteregierung zu der deutschen Regierung 
hatten sich allmählich gebessert. Die Spuren der Mörder, 
die von der Wache vor dem Gesandtschaftsgebäude wohl 
beschossen, aber nicht getroffen wurden und in einem Kraft- 
wagen entkamen, wiesen in das Quartier einer Gruppe der 
linken Sozialrevolutionäre, deren Führer Kamkow, Karlin 
und Spiridonowa sich dadurch verdächtig machten, daß sie 
sich nicht zur Mitgliederversammlung des Sowjetkongresses 
im Großen Theater einfanden. Die linken Sozialrevolu 
tionäre machten auch schließlich aus ihrer Verbindung mit 
den Mördern kein Hehl. Das Attentat sollte der Auftakt 
zu einem neuen Aufstande gegen die Bolschewiki sein, den 
ein Teil der linken Sozialrevolutionäre zusammen mit der 
Gruppe der Rechten längst geplant hatte. Der Haupt 
beteiligte dabei war der ehemalige Kerenskische Kriegs 
minister Sawinkow, der zugleich die gegenrevolutionären 
Bestrebungen der Westmächte in Moskau leitete und Ver 
bindungen mit den Menschewiki und den Tschecho-Slowaken 
in Rußland unterhielt. Ihm fiel wahrscheinlich auch der 
Hauptanteil an der Viertelmilliarde Rubel zu, die die 
zurückzudrängen. Während dieser Zusammenstöße steigerten 
die. Italiener ihre Beute allerdings recht beträchtlich; sie 
meldeten bis einschließlich den 6. Juli 523 Offiziere und 
23911 Mann als Gefangene, ferner 63 Kanonen, 65 Mör 
ser, 1254 Maschinengewehre, 37 105 Gewehre, 49 Flammen 
werfer, 2 unbeschädigte Flugzeuge und vieles andere wert 
volle Kriegsgerät als erbeutet. 
Inzwischen betätigten die Italiener ihren Tatendrang 
auch im Innern ihres Landes. Eines Abends versam 
melten sich Hunderte von italienischen „Kulturkämpfern" 
vor dem deutschen Botschafterpalast in Rom, erbrachen 
eine Tür, zerstörten dann in dem Hause Kunstwerke, zer 
trümmerten Möbel und zerrissen Bücher und Zeitschriften. 
Was den Eindringlingen des Mitnehmens wert erschien, 
eigneten sie sich an. Die Polizei ließ den Pöbel zunächst 
gewähren; sie schritt erst dann gegen den Unfug ein, als 
die wertvolle Einrichtung des Botschafterpalais vernichtet 
und verschleppt war. Der schweizerische Gesandte in Rom, 
dem der Schutz der deutschen Interessen in Italien an 
vertraut war, nahm sich der Sache tatkräftig an und er 
langte die sofortige Entlassung des Polizeikommissars, den 
den Grafen beim Hinauseilen in ein Nebenzimmer. Die 
spätere Untersuchung ergab, daß der Schuß inx Halse ein 
gedrungen war und den Tod beinahe un>nittelbar zur 
Folge hatte. Die Attentäter entflohen nach den Fenstern 
des im Erdgeschoß gelegenen saalartigen Raumes und 
warfen eine Handbombe hinter sich, deren Erplosion von 
so gewaltiger Wirkung war, daß die großen Fensterscheiben 
und viele Einrichtungsgegenstände des Raumes zertrüm 
mert wurden. Den Mördern gelang es, durch die zer 
trümmerten Fenster in den Vorgarten zu entkommen, den 
eisernen Gartenzaun zu übersteigen und', in ihrem bereit 
stehenden Kraftwagen zu entfliehen. 
Sofort nach dem Bekanntwerden des Mordes erschien 
der russische Minister des Äußeren Tschitscherin in Begleitung 
des Politikers Karrachan in der deutschen Gesandtschaft, 
drückte sein tiefstes Bedauern über das Verbrechen aus und 
versprach, unverzüglich alle Schritte zur Bestrafung der 
Mörder zu tun. Die gleiche Zusicherung gab auch Lenin 
ab, der mit Swerdlow, dem Präsidenten des Zentralere- 
kutivkomitees, im Gesandtschaftsgebäude vorsprach. Sämt 
liche Regierungsvertreter baten, den Vorfall nicht als von
	        
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