Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Neunter Band. (Neunter Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
nach den verschiedenen Kaser 
nen, um die Soldaten für ihre 
Sache zu gewinnen oder sie zu 
entwaffnen. In keiner Kaserne 
wurde Widerstand geleistet. 
Einzelne Offiziere, die zu feuern 
wagten oder Befehle dazu er 
teilten, wurden erschossen oder 
kampfunfähig gemacht. Schon 
in den frühen Nachmittagstuu- 
den gehörte Berlin den Revo 
lutionären (siehe die Bilder 
Seite 318 unten). Nach russi 
schem Vorbild entstanden Ar 
beiter- und Soldatenräte. Auf 
dem Königsplatz jubelte eine 
tausendköpfige Menge dem 
Führerder sozialdemokratischen 
Mehrheitspartei,Scheidemann, 
zu, als er auf der Terrasse des 
Reichstagsgebäudes erschien, 
um folgende kurze Ansprache 
zu halten: 
„Das deutsche Volk hat auf 
der ganzen Linie gesiegt. Das 
Alte, Morsche ist zusammenge 
brochen, der Militarismus ist 
erledigt. Die Hohenzollern 
haben abgedankt! Es lebe die 
deutsche R publik! Ebert ist 
zum Reichskanzler aufgerufen 
worden. Er wird eine neue 
Regierung zusammenstellen, 
der alle sozialistischen Richtun 
gen angehören werden. Der 
glänzende Sieg des Volkes darf 
nicht beschmutzt werden. Sorgt 
alle dafür, daß keine Störung 
der Ordnung und Sicherheit eintritt,' das ist es, was wir 
jetzt brauchen. Es lebe die deutsche Republik!" 
Auch Ebert, der neue Reichskanzler, und Göhre (siehe 
Bild Seite 316), ein anderes Mitglied der sozialdemokrati 
schen Mehrheitspartei, ergriffen das Wort,' außer ihnen 
sprachen Soldaten, Offiziere und Arbeiter zu den Ver 
sammelten. Nicht nur von der Terrasse des Reichstags 
gebäudes hielten sie ihre Reden, sondern auch von Last 
wagen, Autodächern und anderen erhöhten Punkten. Man 
hörte sie ruhig an und dankte ihren Worten mit stürmi 
schem Beifall (siehe Bild Seite 325). 
Das Straßenbild war lebhaft, nur die Schutzleute fehlten, 
die truppweise nach dem Polizeipräsidium abgezogen waren. 
Dort hatte man sie entwaffnet. Die ihnen zur Unterstützung 
beigegebenen Soldaten hatten inzwischen ihre Gewehre und 
anderen Waffen an die Zivilbevölkerung verteilt. Die 
Schloßwache warf ihre Ausrüstungsgegenstände, darunter 
Handgranaten und Gasmasken, in die Spree. Zahlreiche 
Zivilisten, und zwar meist sehr fragwürdige Erscheinungen, 
durchzogen mit geladenen Gewehren die Stadt. Gerade 
diese Tapferen trachteten danach, den sich in den späten 
Nachmittag stunden beim Schlosse entspinnenden Kämpfen 
aus dem Wege zu gehen und sich mit ihren Waffen in Sicher 
heit zu bringen. Da nahmen ihnen Soldaten und Matrosen 
die Gewehre wieder ab. Die beginnende Dämmerung er 
höhte die GZahr der Plünderung und der Überfälle. 
Doppelte Postenketten sicherten die Zugänge zu der Um 
gebung des Schlosses, wo der Kampflärm anschwoll. Ma 
schinengewehre knatterten, und GZchosse sausten durch die 
Luft; selbst ein Scheinwerfer trat in Tätigtet. Vom Mar- 
stallgebäude, vom Schloß, vom Dom, von den Universitäts- 
gebäuden und der neuen Bibliothek her wurde auf Posten 
der Mvolutionstruppen geschossen. Schließlich stürmte 
man den Marstall, der schon zahlreiche Spuren von Ma 
schinengewehrgeschossen aufwies (siehe obensbchendes Bild), 
doch wurde darin niemand gefunden; dagegen ergab sich, 
daß bewaffnete Zivilisten in einigen Häusern der Um 
gebung geplündert hatten. 
Die Soldaten schufen bald Ordnung, nicht nur in der 
Stadt, sondern auch in der Regierung. Sie beeinflußten 
dadurch in günstigem Sinne den weiteren Verlauf der Be 
wegung im ganzen Deutschen Reich, das sich nach und nach 
in viele Republiken auflöste, 
die Glieder einer gemeinsamen 
Republik werden wollten. 
Diese Republiken entsprachen 
nicht immer den früheren deut 
schen Bundesstaaten, sondern 
es kam vor, daß sich Teile ein 
zelner Provinzen, manchmal 
unter Einbeziehung von Teilen 
anderer ehemaliger Bundes 
staaten, wie z. B. Oldenburg, 
Ostfrieeland, Brennn und der 
preußische Regierungsbezirk 
Stade, als Republiken erklärten. 
Die Bildung der neuen Re 
gierung vollzog sich rasch. Am 
10. November vormittags war 
durch die in allen Betrieben 
und Bataillonen Groß-Berlins 
gewählten Vertreter der Ar 
beiter- und Soldatenrat ge 
bildet worden, der nachmittags 
fünf Uhr seine erste Sitzung 
abhielt. JndiesergabderRsichs- 
kanzler Ebert bekannt, daß der 
Zusammenschluß der sozialisti 
schen Gruppen gelungen sei. 
Die Mehrheitssozialisten hat- 
tenihren Plan, eine Regierung 
zu bilden, in der sich die Mehr 
heit des deutschen Volkes in 
seinen Hauptvertretern, auch 
Bürgerlichen, widergespiegelt 
hätte, fallen gelassen und 
waren den Unabhängigen sehr 
weit entgegengekommen. Sie 
bildeten mit diesen eine Regie 
rung der vereinigten Sozial 
demokraten, an deren Spitze Ebert (Mehrheitssozialist), 
Haase (Unabhängiger), Scheidemann (Mehrheitssozialist), 
Dittmann (Unabhängiger), Landsberg (Mehrheitssozialist) 
und Barth (Unabhängiger, Vertreter der Spartakusgruppe, 
siehe Bild Seite 324 unten) traten. Diese nannten sich 
Volksbeauftragte und waren also der Rat der Volksbeauf 
tragten. Später traten der Regierung noch eine Reihe 
bürgerlicher Minister bei, die aber keinen entscheidenden 
Einfluß auf die Reichsleitung besaßen, sondern nur ihr be 
sonderes Fach zu pflegen hatten. 
Der Arbeiter- und Soldatenrat wählte gleich in seiner 
ersten Sitzung einen Vollzugsausschuß, der das Mitbestim 
mungsrecht, zunächst eigentlich das Alleinbestimmungsrecht, 
des Arbeiter- und Soldatenrats über den weiteren Aufbau 
der Republik gegenüber dem Rate der Volksbeauftragten 
zur Geltung bringen sollte. Diesem Ausschuß gehörten 
Männer von allen drei sozialdemokratischen Richtungen an. 
Tags darauf fand die erste Sitzung des Soldatenrats 
statt, in der die Tags zuvor gefaßten Beschlüsse und die 
Wahlen nachgeprüft wurden (siehe Bild Seite 324 oben). 
Die größte Gefahr für die ruhige Festigung der Republik 
waren die Versuche der Unabhängigen und der Spartakus 
gruppe, die Gewalt an sich zu reißen. Alle Bemühungen 
in dieser Richtung scheiterten an dem gesunden Sinn der 
Soldaten, die dem Bolschewismus abhold waren. Sie 
unterstützten vor allem auch die Mehrheitssozialisten in 
ihren Bestrebungen, den willkürlich und undemokratisch 
zusammengesetzten Arbeiter- und Soldatenrat überflüssig zu 
machen und recht Halo eine verfassunggebende Versamm 
lung einzuberufen. Am 17. November veröffentlichte das 
Reichsamt des Innern einen Entwurf über die Wahlord 
nung für die verfassunggebende Nrichsversammlung. Die 
Wählerlisten sollten danach am 2. Januar 1919 aufgelegt 
werden, und als Wahltag war der 2. Fe bruar 1919 in Aussicht 
genommen. Je früher die Reichsversammlung abgehalten 
wurde, desto rascher waren geordnete Zustände in Deutschland 
zu erwarten. Nur das neu geeinte Deutsche Reich konnte 
den Stürmen gewachsen sein, die ihm noch bevorstanden. — 
* * 
Die Feindseligkeiten an der Westfront wurden in den 
ersten Tagen der deutschen Revolution zwar fortgesetzt» 
führten aber an keinem Punkte der Front mehr zu besonders 
Die Revolution in Deutschland: Der kaiserliche NTarstall in Berlin 
mit den Spuren von Maschinengeoehrschüssen. 
Aus diesem dem Schloß gegenüberliegenden Gebäude wurde lebhaft 
auf die Revolutionäre geschossen.
	        
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