Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Neunter Band. (Neunter Band)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
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haus lief und an den Schnüren die kleinen Türen der Luken 
hochzog, dann kamen die Tauben, sich plusternd und schnä 
belnd, girrend und gurrend auf die Lausstege und um 
säumten wie lebende Nippessiguren die runde Dachrinne 
des Turmes. Lachend schaute Pvette zu ihren Lieblingen 
hinauf. Dann stellte sie sich mit einem Körbchen auf den 
Hof, lockte die Tauben mit hellsingender Stimme und warf 
Hände voll Körner um sich im Kreis. Schnell flatterten 
die Tiere herbei und umringten Pvette zu Hunderten. 
Das war zu ihren Füßen ein lustiges, pickendes, schwanz- 
und flügelschlagendes, wimmelndes Allerlei. Und sie 
fühlte sich wohl zwischen den Tauben. Sie nahm einen 
kleinen Holzschemel, setzte sich in die Mitie des Schwarmes 
und schaute zu. bis die Tiere gesättigt ins Freie flogen. 
Jedesmal aber blieben drei Tauben zurück, die hatten ein 
wunderbar rostbraun schimmerndes Gefieder, und die 
Brüste waren weiß wie feines Linnenzeug. Sie flatterten 
zu guter Letzt auf den Schoß der schönen Pvette und 
pickten die besten übriggebliebenen Bissen aus den schmalen, 
zarten Händen der Pflegerin. Sie waren so zutraulich und 
zahm auf des Mädchens Knie und ließen sich streicheln und 
drücken. Pvette sprach mit ihnen und nannte sie gar mit 
Namen. „Gurr — gurr — gurr — husch", und ihre Lieb 
linge flatterten davon. 
Dieses idyllische Schauspiel wiederholte sich täglich zur 
Fütterungszeit. Das wiederholte sich auch, als längst der 
Krieg die Gefahrzone weit über diese Gegend hinaus nach 
Frankreich hinein verlegt hatte- AIs junges weibliches 
Wesen war Pvette mit einem hochbetagten Ehepaar, das 
hier als getreue Landarbeiter alt geworden war, zurück 
geblieben, Der Vater verrichtete Hilfsdienst für die Deutschen 
in der Etappe. Die Mutter war tot. 
Jahraus, jahrein besaß Pvette nun keine andere Zer 
streuung mehr, als die mit den Tauben. Ihr ganzes Tun 
und Treiben drehte sich einzig und allein um die Tiere. 
Sie boten ihr Lebensinhalt. Sie hing mit ganzem Herzen 
daran und verwuchs mit ihnen wie liebwerte Angehörige 
untereinander. Ereignete es sich, daß eines der Tiere 
einmal abhanden kam oder von Raubzeug gewürgt wurde, 
jo trug sie gelassen, aber mit großem Schmerze den herben 
Verlust. Sie alle waren ja ihr Glück und ihre Hoffnung 
aus andere Zeiten. So ver 
gaß sie leichter alle Entbeh 
rungen und unterwarf sich wil 
lig allen Kriegsbestimmungen. 
All die Jahre hindurch hatte 
sie im ewigen Einerlei das Ge 
schick geduldig getragen. All 
die herrlichen Friedensgenüsse 
in der Stadt und auf dem 
Lande sanken langsam in die 
Vergessenheit und tauchten nur 
noch hin und wieder in der Er 
innerung auf wie ein Lichtblick, 
wie ein altes, einst selbst erlebtes 
Märchen. Sie fand nichts zu 
nörgeln an der knappen Kost 
und rümpfte nicht die Nase, 
wenn sie sich einmal in Gedan 
ken versunken auf dem Wege 
zum Nachbardorfe befand und 
von dem deutschen Posten an 
der Straßenkreuzung rücksichts 
los zurückgeschickt wurde, weil 
sie ohne Ausweis nicht die 
heimatliche Scholle verlassen 
durfte. — Fiel eine deutsche 
Zeitschrift in ihre Hände, so 
blätterte sie allerdings wißbe 
gierig darin und blickte mit 
staunenden Augen auf die Bil 
der, die deutsches Leben wäh 
rend des Krieges daheim wi 
derspiegelten. Da sah sie, wie 
auf den Bühnen überall Scherz 
und Ernst geboten wurde, wie 
in den Kinos auf flimmernder 
Leinwand die Langeweile ver 
strich, wie die Leute bei großen 
Musikvorführungen in Ver 
gessenheit untertauchten, wie sie auf Eiseubahnen in alle 
Gaue fuhren, wie an der See das lustigste Badeleben 
herrschte und wie im Hochgebirge herzerfrischende Touren 
gemacht wurden, da konnte sie sehen, wie auch sonst an 
Kleidung und Labsal die Deutschen noch lange nicht unter 
den Entbehrungen zu leiden hatten wie sie hier draußen. 
Wie konnte es dort nur Leute geben, die da sagten, 
sie gingen unter dem Drucke zunehmender Entbehrungen 
zugrunde - Ging dort nicht vieles seinen altgewohnten 
Gang? Die brauchten niemals die Hälfte ihrer Behau 
sung abzutreten für Einquartierung, die konnten sich auch 
nach neun Uhr abends noch auf der Straße blicken lassen, 
die brauchten auch nicht zu befürchten, daß eine Gra 
nate eines Tages ihr Hab und Gut zertrümmere. Bei 
den Leuten im besetzten Gebiete aber waren selten Klagen 
zu hören. Sie fügten sich mit staunenswerter Gelassenheit 
in ihr Schicksal. Sie trugen hinfort ein kostbares Kleinod 
im Herzen: die Hoffnung! Daran richteten sie sich auf in 
all den schweren Tagen. Wahrlich, mancher Deutsche 
hätte von diesen Franzosen noch lernen können. 
Auch Pvette fand in der Hoffnung festen Halt. De? 
Hoffnung Sinnbild waren ihre Tauben. 
Dann aber ereignete es sich, daß die deutsche Front 
um einige Kilometer zurückverlegt wurde. So geriet auch 
der Taubenhof der Pvette in die Feuerzone der fran 
zösischen Artillerie. Sie zogen da drüben mehr und mehr 
Geschütze zusammen und trafen Vorbereitungen zu weiteren 
Angriffen. Und es kam die Stunde, wo französische Gra 
naten auch auf dem Taubenhof platzten, ehe die ganze 
Zivilbevölkerung zurückgezogen worden war. In der ersten 
Bestürzung raffte Pvette einige wertlose Sachen und 
Kleidungstücke zusammen und eilte ratlos auf den Hof. 
Da jagte mit jauchzendem Zischen und betäubendem 
Krachen ein Geschoß in das lange Stallgebäude und riß 
die Hälfte des Daches nach sich. Schiefer und Splitter 
fielen in dichtem Hagel herab. Poetle sprang wieder ins 
Haus und kauerte sich in eine Ecke der Küche. Nun fiel 
ihr Blick durch das Fenster auf das Taubenhaus, das die 
Tauben ängstlich umflatterten. „Die Tauben, die Tau 
ben!" Mit einem Satz war Pvette hinaus. Sie mußte 
zu den Vögeln. Dort fühlte sie sich sicherer, sie wußte 
sonst keinen Rat. Sie zwängte 
sich durch die kleine Tür im 
Unterbau in das Innere und 
stand nun inmitten des großen 
Taubenhauses. Viele kleine 
Köpfchenreckten sich und blickten 
verwundert auf die verängstigte 
Pvette, die sich hier langsam 
zu beruhigen begann. Sie hockte 
auf einem kleinen Gestell und 
rief nach ihren drei Lieblingen. 
Und siehe, die kamen herabge 
flattert und ließen sich wieder 
auf dem Schoße der Pvette 
nieder und machten „gurr — 
gurr — gurr". Sie streichelte 
die Tierchen und vergaß die 
Gefahr ringsum. 
Auf einmal verlor Pvette 
durch einen gewaltigen Ein 
schlag die Besinnung. Als sie, 
unverletzt, die Augen wieder 
aufschlug, da fiel ein breiter 
Sonnenstrahl durch das wüst 
zertrümmerte Dachgeschoß auf 
ihr bleiches Gesicht. Die letzten 
Tauben flögen scheu hinaus. 
Viele Hunderte der Tierchen 
aber lagen tot zu ihren Füßen. 
Und auch aus ihren drei Lieb 
lingen auf dem Schoße war 
— offenbar durch den starken 
Luftdruck der Explosion — jeg 
liches Leben gewichen. Wie 
durch ein Wunder war Pvette 
heil geblieben. Sie drückte 
die toten Tiere an ihr pochen 
des Herz, wickelte sie in die 
Schürze und weinte bitterlich. 
Phot. Max Wipperling, Elberfeld. 
Das Innere des französischen Taubenturmes. in dem etwa 1500 
Xauben nisten können. 
Eine drehbare Leiter ermöglicht es, an jedes Nest zu gelangen.
	        
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