Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
fand sich alt und jung in erregten Gesprächen auf den 
Straßen in Gruppen zusammen. Auf allen Lippen lag 
es und in aller Mienen war es zu lesen: ,Ein Gefecht ist im 
Gange!' Sehr weit konnte es nicht sein, denn unablässig 
dröhnte dumpfes Rollen aus der Ferne. Die Lage soll 
für uns schlecht sein, so flog die Nachricht von Mund zu 
Mund. Die Ankunft von Flüchtlingen ans den östlich 
benachbarten Dörfern trug nicht gerade zur Beruhigung 
bei. Auf Leiterwagen kamen sie dahergezogen; nur gering 
war die Habe, die sie bei dem eiligen Aufbruche zn retten 
vermochten. Überall Wehklagen und vergrämte Gesichter. 
So schlich der Tag bleiern dahin. Der Abend brach herein, 
der Kanonendonner wurde stärker. Unaufhörlich krachte 
es, Schlag auf Schlag. Der Himmel flammte im Purpur 
schein der niedergehenden Sonne, und stärker wurde die Röte, 
die die brennenden Gehöfte ausstrahlten. Endlich, um ein 
Uhr nachts, wurde es still. Unheimlich still. Was war ge 
schehen? Bedeutete die Stille Sieg oder Verderben? 
Schon um halb vier Uhr fahre ich aus unruhigem Schlafe 
auf. Ganz nahe erdröhnen Kanonenschläge, die die Fenster 
erklirren machen. Ich schlüpfe in die Kleider und eile auf 
die Straße; ganz Gumbinnen ist schon auf den Beinen. 
Die Russen müssen während der Nacht gewaltig an Raum 
gewonnen haben. Offiziere reiten im Galopp durch die 
Stadt. Munitionskolonnen kommen im Schritt angefahren. 
Dem führenden Offizier wird eine Meldung erstattet. 
Flüchtig greift seine Hand an den Helm; ein kurzer Gruß. 
Dann richtet er sich hoch auf im Sattel, und scharf klingt 
sein Befehl: .Trab!' An mir vorüber rollen die schweren 
Wagen; es ist, als ob die Erde unter den Rädern bersten 
müßte. 
Die Erregung wächst. Ach, wenn man nur da draußen 
mittun dürfte; hier untätig sein, wird beinahe unerträglich! 
Stunde um Stunde verrinnt, und endlich um elf Uhr 
schweigen die Geschütze. Nur ganz vereinzelt kracht noch 
ein Schuß. Ein mir bekannter Offizier kommt langsam 
vorüber; sein Pferd zittert an allen Gliedern, der Reiter 
ist offenbar todmüde. Ich rufe ihn an: ,Wie steht's?' Ein 
mattes Lächeln fliegt über seine Züge: .Ausgezeichnet! 
Es war hart, aber wir haben es geschafft. Die Russen 
reißen aus wie Schafleder!' 
Wenige Stunden später trotten gefangene Russen durch 
die Stadt. Sie sehen wenig anmutig aus in ihren losen 
Leinenkitteln und schlappen Feldmützen; sie stapfen stumpf 
sinnig und maschinenmäßig an uns vorüber." 
Also nach Stallupönen auch bei Gumbinnen ein wenn 
auch hart erkämpfter Sieg, der, obwohl das allgemeine 
Interesse überwiegend den fabelhaften Erfolgen im Westen 
sich zuwendete, überall jubelnd begrüßt wurde. Aber dieser 
Jubel sollte nach wenigen Tagen schon, zum mindesten in 
den Teilen der Provinz, die von den Vorgängen unmittelbar 
in Mitleidenschaft gezogen wurden, einer recht gedrückten 
Stimmung Platz machen, als nach und nach immer be 
stürmter verlautete, daß trotz der erlittenen Niederlagen 
ehr starke, überlegene russische Truppenmassen im Anmarsch 
'eien. Schon forderte die militärische Leitung die Bevölke 
rung der Erenzbezirke bis hinein über Insterburg auf, die 
heimische Scholle im eigenen wie im vaterländischen Interesse 
zu verlassen; doch werde die durch die Umstände gebotene 
Räumung eine nur vorübergehende sein. Und das Armee 
oberkommando hatte wohl getan: die Kosakenhorden, die 
nun in Massen über die Grenze hereinfluteten, würden der 
ländlichen wie der städtischen Bevölkerung ohne Zweifel 
nicht übel mitgespielt haben. 
Im Süden der Provinz war um den 27. August herum im 
Bereiche der masurischen Seen und Sümpfe — ein Gelände, 
durch das nur schmale Wege führen und das vielfach mit 
dichten Wäldern besetzt ist — eine zweite russische Armee 
eingedrungen, die offenbar mit der nördlichen russischen 
Truppenmacht zusammen operieren sollte. Diese zweite 
Armee gedachten die Unseren auf dem unwegsamen Ge 
biete sogleich zu fassen, und das ist auch unter der ent 
schlossenen und genialen Führung des Generalobersten 
v. Beneckendorff und Hindenburg, über dessen Persönlichkeit 
wir auf Seite 63 berichten, in glänzender Weise gelungen. 
Eine gemischte deutsche Landwehrdivision, gestützt auf 
schwere Artillerie, legte sich den Russen bei Osterode quer 
vor die Marschrichtung und stemnite sich ihrem Vordringen 
mit aller Tapferkeit entgegen. Sie durften sich deni Sumpf- 
und Seengebiete nicht entwinden. Gleichzeitig wurden sie 
von Südwesten her durch eine zweite deutsche Division 
angegriffen, die den Feind durch Vorschieben des rechten 
Flügels bei Neidenburg zu umfassen suchte. Auch das gelang. 
Mer auch von Norden her rückte in Eilmärschen eine starke 
deutsche Streitkraft aus der Richtung Allenstein—Warten- 
burg—Bischofsburg, die es erzwang, ihren linken Flügel bis 
über Passenheim hinaus vorzuschieben. Nun war der Ring 
geschlossen und die Schlacht und das Schlachten im Gange. 
Die Russen versuchten sich gewaltig zu wehren, weil sie 
einsehen mußten, daß auch ein beschleunigter Rückzug so 
gut wie aussichtslos erschien, denn sobald sie Fersengeld 
gaben, hatten sie nur Sümpfe und Seen vor sich, hinter 
sich aber die treffsicheren Lanzenspitzen und die scharfen 
Säbel der Verfolger. So gab es — wie unser Bild Seite 48 
und 49 in einer nur kleinen Episode aus der dreitägigen 
Schlacht zeigt — auf russischer Seite ein verzweifeltes 
Ringen, das damit endete, daß, was sich nicht gefangen 
gab, niedergemacht oder in die Seen und Sümpfe getrieben 
wurde; es war eine Waffentat, die in ihrer Eigenart 
ein unvergängliches Ruhmesblatt glänzender Führung und 
deutscher Tapferkeit für alle Zeiten bilden wird. Zu Haufen 
lagen, wie die Besucher der Walstatt melden konnten, 
aus den Kampfplätzen die Toten und Verwundeten. Die 
ganze Wucht des deutschen Zornes war über die russischen 
Krieger hereingebrochen. Nicht weniger als 90 000 wurden 
gefangen, 5 Armeekorps vollständig aufgerieben und ihre 
gesamten Geschütze, 516 an der Zahl, vernichtet. Unter 
den Gefangenen befanden sich drei kommandierende Gene 
rale; der Armeeführer ist nach russischen Nachrichten gefallen. 
Die ersten eroberten Geschützein Straßburg. 
(Hierzu das Bild auf Seite 47.) 
Wohl nirgends in der ganzen Westhälfte des Reiches 
hat die Kriegserklärung die Gemüter so tief getroffen wie 
in Straßburg: wußten doch alle, mit welch begierigen Augen 
die Franzosen seit Jahrzehnten nach ihrer stolzen Stadt 
ausblickten. „Wie fasziniert," schrieb ein militärischer 
Sachverständiger noch in den letzten Wochen, „starren sie 
nach dem berühmten .Loch in den Vogesen', von wo der 
Siegeszug nach Berlin beginnen soll. Ohne Zweifel würde 
also der erste Vorstoß gegen das südliche Elsaß gerichtet, und 
wenn er gelang, die Festung in wenig Tagen schon von den 
französischen Horden umbrandet sein. Und es lebten noch 
viele dort, die jene Schreckenstage der Belagerung von 1870 
durch die Deutschen aus eigener Anschauung kannten. 
Aber wer verlor den Mut? Niemand — nicht einen 
Augenblick! Sofort rührte sich, was Hände hatte, bei den 
Schanzarbeiten, um die Stadt für den schlimmsten Fall 
zu rüsten; alt und jung, arm und reich — ohne Unterschied 
des Standes griff jeder zu Hacke, Grabscheit oder Schaufel. 
Und was mußte sonst noch geopfert werden, wieviel Liebes 
und Altvertrautes! Denn um freies Schußfeld zu ge 
winnen, besonders nach Westen, mußte alles verschwinden, 
was störend wirkte: Gebäude, Bäume, Gärten — alles. 
Dann kam der Tag, an dem die Franzosen zum 
erstenmal bis Mülhausen vordrangen und mit echt welscher 
Frechheit sich gebärdeten, als sei nunmehr das ganze Elsaß 
unwiderruflich wieder französisch. Aber nur einen Tag 
und eine Nacht dauerte die Herrlichkeit, da war sie, von 
unseren tapferen Truppen zusammengeschossen, aus der 
Flucht nach Belfort. Und wenn auch die Feinde, förmlich 
verbissen in ihren Plan des Vormarsches durch das südliche 
Elsaß, immer neue leidenschaftliche Vorstöße unternahmen: 
in Straßburg wußte man nun, daß draußen eine treue, 
Zuverlässige Wacht an der Grenze steht. 
Und nun kanr auch die erste große Freude! Vier Ge 
schütze hatten unsere feldgrauen Helden dem Feind bei Mül 
hausen abgenommen; die sollten in Straßburg vor dem 
Kaiserpalast Aufstellung finden, als Zeichen des ersten 
schönen Erfolges und des festen Glaubens an den end 
gültigen Sieg über alle Feinde ringsuin. Man kann es 
den Straßburgern leicht nachfühlen, mit welchem Jubel, 
welcher Begeisterung sie dem erhebenden Schauspiel der 
Einbringung, das unser Bild wiedergibt, beiwohnten. Nun 
wußten sie es sicher: Nie mehr würde ein Feind das 
schwarzwcißrvte Banner vom altehrwürdigen Dom herunter 
holen, nie inehr welscher Übermut in der deutschen Stadt 
gebieten; nun blieb sie deutsch —durch deutsche Tapferkeit!
	        
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