Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
seien hier aus dem Weißbuche die Telegramme wieder 
gegeben, die zwischen dem Petersburger und dem Berliner 
Hofe gewechselt wurden. 
Der Kaiser an den Zaren: 
Vom 28. Juli, 10 Uhr 45 nachm. 
Mit der größten Beunruhigung höre ich von dem Ein 
druck, den Österreich-Ungarns Vorgehen gegen Serbien 
in Deinem Reiche hervorruft. Die skrupellose Agitation, 
die seit Jahren in Serbien getrieben worden ist, hat zu 
dem empörenden Verbrechen geführt, dessen Opfer Erz 
herzog Franz Ferdinand geworden ist. Der Geist, der die 
Serben ihren eigenen König und seine Gemahlin morden 
ließ, herrscht heute noch in jenem Lande. Zweifellos wirst 
Du mit mir darin übereinstimmen, daß wir beide, Du und 
ich, sowohl als alle Souveräne ein gemeinsames Interesse 
daran haben, darauf zu bestehen, daß alle diejenigen, die für 
den scheußlichen Mord verantwortlich sind, ihre verdiente 
Strafe erleiden. 
Anderseits übersehe ich keineswegs, wie schwierig es 
für Dich und Deine Regierung ist, den Strömungen der 
öffentlichen Meinung entgegenzutreten. Eingedenk der 
herzlichen Freundschaft, die uns beide seit langer Zeit mit 
festem Band verbindet, setze ich daher meinen ganzen Ein 
fluß ein, um Österreich-Ungarn dazu zu bestimmen, eine 
offene und befriedigende Verständigung mit Rußland an 
zustreben. Ich hoffe Zuversichtlich, daß Du mich in meinen 
Bemühungen, alle Schwierigkeiten, die noch entstehen 
können, zu beseitigen, unterstützen wirst. 
Dein sehr aufrichtiger und ergebener Freund und Vetter 
gez. Wilhelm. 
Der Zar an den Kaiser: 
Peterhof, Palais, 29. Juli, 1 Uhr nachm. 
Ich bin erfreut, daß Du zurück in Deutschland bist. In 
diesem so ernsten Augenblick bitte ich Dich inständig, mir 
zu helfen. Ein schmählicher Krieg ist an ein schwaches Land 
erklärt worden. Die Entrüstung hierüber, die ich völlig 
teile, ist in Rußland ganz ungeheuer. Ich sehe voraus, 
daß ich sehr bald dem Druck, der auf mich ausgeübt wird, 
nicht mehr werde widerstehen können und gezwungen sein 
werde, Maßregeln zu ergreifen, die zum Kriege führen 
werden. Um einem Unglück, wie es ein europäischer Krieg 
sein würde, vorzubeugen, bitte ich Dich im Namen unserer 
alten Freundschaft, alles Dir Mögliche zu tun, um Deinen 
Bundesgenossen davon zurückzuhalten, zu weit zu gehen. 
gez. Nikolaus. 
Der Kaiser an den Zaren: 
Vom 29. Juli, 6 Uhr 30 nachm. 
Ich habe Dein Telegramm erhalten und teile Deinen 
Wunsch nach Erhaltung des Friedens. Jedoch kann ich — 
wie ich Dir in meinem ersten Telegramm sagte — Öster 
reich-Ungarns Vorgehen nicht als „schmählichen Krieg" be 
trachten. Österreich-Ungarn weiß aus Erfahrung, daß 
Serbiens Versprechungen, wenn sie nur auf dem Papier 
stehen, gänzlich unzuverlässig sind. Meiner Ansicht nach 
ist Österreich-Ungarns Vorgehen als ein Versuch zu be 
trachten, volle Garantie dafür zu erhalten, daß Serbiens 
Versprechungen auch wirklich in die Tat umgesetzt werden. 
In dieser Ansicht werde ich bestärkt durch die Erklärungen 
des österreichischen Kabinetts, daß Österreich-Ungarn keine 
territorialen Eroberungen auf Kosten Serbiens beabsichtige. 
Ich meine daher, daß es für Rußland durchaus möglich ist, 
bei dem österreichisch-serbischen Krieg in der Rolle des 
Zuschauers zu verharren, ohne Europa in den schrecklichsten 
Krieg hineinzuziehen, den es jemals erlebt hat. Ich glaube, 
daß eine direkte Verständigung zwischen Deiner Regierung 
und Wien möglich und wünschenswert ist, eine Verständi 
gung, die — wie ich Dir schon telegraphierte — meine Re 
gierung mit allen Kräften zu fördern bemüht ist. Natür 
lich würden militärische Maßnahmen Rußlands, welche 
Österreich-Ungarn als Drohung auffassen könnte, ein 
Unglück beschleunigen, das wir beide zu vermeiden wünschen, 
und würden auch meine Stellung als Vermittler, die ich — 
auf Deinen Appell an meine Freundschaft und Hilfe — 
bereitwillig angenommen habe, untergraben. 
gez. Wilhelm. 
Der Kaiser an den Zaren: 
Vom 30. Juli, 1 Uhr vorin. 
Mein Botschafter ist angewiesen, Deine Regierung auf 
die Gefahren und schweren Konsequenzen einer Mobili 
sation hinzuweisen: das gleiche habe ich Dir in meinen: 
letzten Telegramm gesagt. Österreich-Ungarn hat nur gegen 
Serbien mobilisiert, und zwar nur einen Teil seiner Armee. 
Wenn Rußland, wie es jetzt nach Deiner und Deiner Regie 
rung Mitteilung der Fall ist, gegen Österreich-Ungarn mobil 
macht, so wird die Vermittlerrolle, mit der Du mich in 
freundschaftlicher Weise betrautest und die ich auf Deine 
ausdrückliche Bitte angenommen habe, gefährdet, wenn 
nicht unmöglich gemacht. Die ganze Schwere der Ent 
scheidung liegt jetzt auf Deinen Schultern, sie haben die 
Verantwortung für Krieg oder Frieden zu tragen. 
gez. Wilhelm. 
Der Zar an den Kaiser: 
Peterhof, 30. Juli, 1 Uhr 20 nachm. 
Ich danke Dir von Herzen für Deine rasche Antwort. 
Ich entsende heute abend Tatischeff mit Instruktionen. 
Die jetzt in Kraft tretenden militärischen Maßnahmen sind 
schon vor fünf Tagen beschlossen worden, und zwar aus 
Gründen der Verteidigung gegen Österreich. Ich hoffe 
aber von Herzen, daß diese Maßnahmen in keiner Weise 
Deine Stellung als Vermittler beeinflussen werden, die 
ich sehr hoch anschlage. Wir brauchen Deinen starken Druck 
auf Österreich, damit es zu einer Verständigung mit uns 
kommt. gez. Nikolaus. 
Am 31. Juli nachmittags zwei Uhr richtete der Zar 
an den Deutschen Kaiser noch folgende Depesche: 
Ich danke Dir von Herzen für Deine Vermittlung, die 
eine Hoffnung aufleuchten läßt, daß schließlich doch noch 
alles friedlich enden könnte. Es ist technisch unmöglich, 
unsere militärischen Vorbereitungen einzustellen, die durch 
Österreichs Mobilisierung notwendig geworden sind. Wir 
sind weit davon entfernt, einen Krieg zu wünschen. So 
lange wie die Verhandlungen mit Österreich über Serbien 
andauern, werden meine Truppen keine herausfordernde 
Aktion unternehmen. Ich gebe Dir mein feierliches Wort 
darauf, und ich vertraue mit aller Kraft auf Gottes Gnade 
und hoffe auf den Erfolg Deiner Vermittlung in Wien für 
die Wohlfahrt unserer Länder und den Frieden Europas. 
Dein Dir herzlich ergebener gez. Nikolaus. 
Gibt es eine größere Niedertracht, als sie sich in den 
Telegrammen des Zaren äußert? Aber wir dürfen dem 
wortbrüchigen Beherrscher Rußlands dankbar sein, denn er 
machte unser Volk wirklich einig in der Abwehr des Feindes. 
❖ * 
* 
Der Krieg vom 1. bis 3. August. 
Die erste feindliche Massenkundgebung, denn ein Ge 
fecht kann man es nicht nennen, fand bereits am 1. August 
an der russischen Grenze statt. Am Nachmittag dieses 
Tages wurde eine deutsche Patrouille bei Prostken, etwa 
dreihundert Meter diesseits der Grenze, von einer russischen 
Patrouille beschossen. Die Deutschen erwiderten das 
Feuer, doch waren auf keiner Seite Verluste zu verzeichnen. 
Eine solche Schießerei der Patrouillen zweier aneinander 
grenzenden Länder braucht man nicht immer als einen 
Kriegsbeginn zu betrachten. Es kam schon in Friedens 
zeiten vor, daß über die Grenze geschossen wurde, und 
dann entschuldigte man sich stets mit einem Mißverständnis, 
womit die Sache beigelegt war. Wäre es also bei den: 
Schießen der russischen Patrouille bei Prostken geblieben, 
so bestand noch kein Grund für die Annahme, daß Deutsch 
land überfallen worden sei. Aber die Sache nahm bald 
ein anderes Gesicht an, als an demselben Tage schon die 
Kunde von den ersten Erenzkämpfen kam. Das amtliche 
Wolffsche Telegraphenbüro meldete bereits untern: 
2. August: 
Nachdem die Kunde von der allgemeinen russischen 
Mobilmachung hierher gelangt war, ist der deutsche Bot 
schafter in Petersburg beauftragt worden, die russische 
Regierung aufzufordern, die Mobilmachung gegen uns 
und unseren österreichischen Bundesgenossen einzustellen 
und hierüber eine bündige Erklärung binnen zwölf Stunden 
abzugeben. Dieser Auftrag ist nach Meldung des Grafen
	        
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