Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
nicht, aber trifft doch, wie es zugibt, militärische Vor 
bereitungen. 
Und wir? — Wir hatten (in Erregung auf den Tisch 
schlagend und mit starker Betonung) absichtlich bis dahin 
keinen Reservemann einberufen, dem europäischen Frieden 
zuliebe! Sollten wir jetzt weiter geduldig warten, bis etwa 
die Mächte, zwischen denen wir eingekeilt sind, den Zeit 
punkt zum Losschlagen wählten? Dieser Gefahr Deutsch 
land auszusetzen, wäre ein Verbrechen gewesen! Darum 
fordern wir noch am 31. Juli von Rußland die Demobili 
sierung als einzige Maßregel, welche noch den europäischen 
Frieden retten könnte. Der Kaiserliche Botschafter in 
Petersburg erhält ferner den Auftrag, der russischen Re 
gierung zu erklären, daß wir im Falle der Ablehnung 
unserer Forderung den Kriegszustand als eingetreten be 
trachten müßten. 
Der Kaiserliche Botschafter hat diesen Auftrag aus 
geführt. Wie Rußland auf unsere Forderung der De 
mobilisierung geantwortet hat, wissen wir heute noch nicht. 
Telegraphische Meldungen darüber sind nicht bis an uns 
gelangt, obwohl der Telegraph weit unwichtigere Mel 
dungen noch übermittelte. 
So sah sich, als die gestellte Frist längst verstrichen war, 
der Kaiser am 1. August, nachmittags fünf Uhr, genötigt, 
unsere Wehrmacht mobil zu machen. 
Zugleich mußten wir uns versichern, wie sich Frank 
reich stellen würde. Auf unsere bestimmte Frage, ob es 
sich im Falle eines deutsch-russischen Krieges neutral halten 
würde, hat uns Frankreich geantwortet, es werde tun, 
was ihm seine Interessen geböten. Das war eine aus 
weichende Antwort auf unsere Frage, wenn nicht eine 
Verneinung unserer Frage. 
Trotzdem gab der Kaiser den Befehl, daß die französische 
Grenze unbedingt zu respektieren sei. Dieser Befehl wurde 
strengstens befolgt, bis auf eine einzige Ausnahme. Frank 
reich, das zu derselben Stunde wie wir mobil machte, 
erklärte uns, es werde eine Zone von zehn Kilometern 
an der Grenze respektieren. Und was geschah in Wirklich 
keit? Bombenwerfende Flieger, Kavalleriepatrouillen, auf 
reichsländisches Gebiet eingebrochene französische Kom 
panien! Damit hat Frankreich, obwohl der Kriegs 
zustand noch nicht erklärt war, den Frieden gebrochen und 
uns tätlich angegriffen. 
Was jene Ausnahme betrifft, so habe ich vom Chef des 
Eeneralstabs folgende Meldung erhalten: Von den fran 
zösischen Beschwerden über Grenzverletzungen unserer 
seits ist nur eine einzige zuzugeben. Gegen den ausdrück 
lichen Befehl hat eine, anscheinend von einem Offizier 
geführte Patrouille des XIV. Armeekorps am 2. August 
die Grenze überschritten. Sie ist scheinbar abgeschossen, 
nur ein Mann ist zurückgekehrt. Aber lange bevor diese 
einzige Erenzüberschreitung erfolgte, haben französische 
Flieger bis nach Süddeutschland hinein auf unsere Bahn 
linien Bomben abgeworfen, haben am Schluchtpaß fran 
zösische Truppen unsere Grenzschutztruppen angegriffen. 
Unsere Truppen haben sich dem Befehle gemäß zunächst 
gänzlich auf die Abwehr beschränkt. Soweit die Meldung 
des Generalstabs. 
Meine Herren! Wir sind jetzt in der Notwehr; und 
Not kennt kein Gebot!. Unsere Truppen haben Luxemburg 
besetzt, vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Meine 
Herren, das widerspricht den Geboten des Völkerrechts. 
Die französische Regierung hat zwar in Brüssel erklärt, 
die Neutralität Belgiens respektieren zu wollen, solange 
der Gegner sie respektiere. Wir wußten aber, daß Frank 
reich zum Einfall bereitstand. Frankreich konnte warten, 
wir aber nicht! Ein französischer Einfall in unsere Flanke 
am unteren Rhein hätte verhängnisvoll werden können. 
So waren wir gezwungen, uns über den berechtigten 
Protest der luxemburgischen und der belgischen Regierung 
hinwegzusehen. Das Unrecht — ich spreche offen — das 
Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzu 
machen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. 
Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, 
der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut! 
Meine Herren, wir stehen Schulter an Schulter mit 
Österreich-Ungarn. 
Was die Haltung Englands betrifft, so haben die Er 
klärungen, die Sir Edward Erey gestern im englischen 
Unterhaus abgegeben hat, den Standpunkt klargestellt, den 
die englische Regierung einnimmt. Wir haben der eng 
lischen Regierung die Erklärung abgegeben, daß, solange 
sich England neutral verhält, unsere Flotte die Nordküste 
Frankreichs nicht angreifen wird, und daß wir die terri 
toriale Integrität und die Unabhängigkeit Belgiens nicht 
antasten werden. Diese Erklärung wiederhole ich hiermit 
vor aller Welt, und ich kann hinzusetzen, daß, solange Eng 
land neutral bleibt, wir auch bereit wären, im Falle der 
Gegenseitigkeit keine feindlichen Operationen gegen die 
französische Handelsschiffahrt vorzunehmen. 
Meine Herren! Soweit die Vorgänge. Ich wiederhole 
das Wort des Kaisers: „Mit reinem Gewissen zieht Deutsch 
land in den Kampf!" Wir kämpfen um die Früchte unserer 
friedlichen Arbeit, um das Erbe einer großen Vergangen 
heit und um unsere Zukunft. Die fünfzig Jahre sind noch 
nicht vergangen, von denen Moltke sprach, daß wir gerüstet 
dastehen müßten, um das Erbe, um die Errungenschaften 
von 1870 zu verteidigen. Jetzt hat die große Stunde der 
Prüfung für unser Volk geschlagen. Aber mit heller Zu 
versicht sehen wir ihr entgegen. Unsere Armee steht im 
Felde, unsere Flotte ist kampfbereit, hinter ihr das ganze 
deutsche Volk! — Das ganze deutsche Volk 
einig bis auf den letzten Mann! 
Sie, meine Herren, kennen Ihre Pflicht in ihrer ganzen 
Größe. Die Vorlagen bedürfen keiner Begründung mehr. 
Ich bitte um ihre schnelle Erledigung. 
Hierauf antwortete der Präsident des Reichstages und 
schlug dann vor, die Sitzung zu schließen und die nächste 
Sitzung nachmittags um fünf Uhr abzuhalten mit der Tages 
ordnung: Erste und zweite Beratung der bekanntgegebenen 
Vorlagen. 
Die neue Sitzung wurde um fünf Uhr einundzwanzig 
Minuten durch den Präsidenten Dr. Kämpf eröffnet. 
Nach Erledigung verschiedener Formalitäten machte der 
Präsident den Vorschlag, die erste Beratung der sämt 
lichen vorliegenden Gesetzentwürfe zu verbinden. Dieser 
Vorschlag wurde mit einem einstimmigen Bravo an 
genommen. 
Als einziger Redner sprach der Vertreter der Sozial 
demokratie, um zu erklären, daß seine Partei in der Stunde 
der Gefahr ihr Versprechen, das Vaterland nicht im Stich 
zu lassen, wahr mache. 
Hierauf wurden alle Gesetze in zusammenfassender Ab 
stimmung unter stürmischem Beifall einstimmig an 
genommen. 
Die Schlußrede des Präsidenten Dr. Kämpf lautete: 
Meine Herren! Wir haben mit der Schnelligkeit, die 
der Ernst der Lage erfordert, die Gesetzentwürfe bewilligt, 
die dazu bestimmt sind, für den Krieg und für das wirt 
schaftliche Leben während des Krieges die notwendige 
Sicherheit zu schaffen. 
Viele von unseren Herren Kollegen ziehen hinaus in 
den Kampf um die Ehre des Vaterlandes. Unter uns ist 
keiner, der nicht von einem oder mehreren Söhnen und 
sonstigen Familienmitgliedern Abschied nehmen müßte. 
Unsere wärmsten und innigsten Segenswünsche begleiten 
sie alle auf dem schweren, aber ehrenvollen Gange in den 
heiligen Kampf. Unsere Segenswünsche begleiten unser 
ganzes Heer, unsere ganze Marine. Wir sind des felsen 
festen Vertrauens, daß die Schlachtfelder, die das Blut 
unserer Helden tränkt, eine Saat hervorbringen werden, 
die dazu berufen ist, eine Frucht zu tragen so schön, wie 
wir sie nur denken können: die Frucht neuer Blüte, neuer 
Wohlfahrt, neuer Macht des deutschen Vaterlandes. 
Das Wort hat der Herr Reichskanzler. 
v. Bethmann Hollweg: Meine Herren! Am Schluffe 
dieser kurzen, aber ernsten Tagung ein kurzes Wort. Nicht 
nur das Gewicht Ihrer Beschlüsse gibt dieser Tagung ihre 
Bedeutung, sondern der Geist, aus dem heraus diese Be 
schlüsse gefaßt sind: der Geist der Einheit Deutschlands, des 
unbedingten rückhaltlosen gegenseitigen Vertrauens auf 
Leben und Tod. Was uns auch beschieden sein mag: der 
4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit hinein einer der 
größten Tage . Deutschlands sein. Seine Majestät der 
Kaiser und Seine hohen Verbündeten haben mir den Auf 
trag gegeben, dem Reichstage zu danken. 
Ich habe eine Allerhöchste Verordnung dem Hause 
mitzuteilen. (Der Reichstag erhebt sich und der Reichs 
kanzler verliest die Verordnung, welche den Reichstag auf 
den 24. November vertagt.)
	        
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