Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. 
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9000 Mann betragenden Garnison in Friedenszeiten 57 000 
meist polnische Einwohner. 
Während der Belagerung von Przemysl herrschte auch 
in den übrigen Teilen Galiziens keineswegs idyllische Ruhe. 
Im allgemeinen nahmen die Kämpfe einen für die öster 
reichisch-ungarische Monarchie günstigen Fortgang. Am 
7. Oktober wurde der Feind an der Straße nach Przemysl 
bei Barycz geworfen und das von den Russen besetzte 
Rzeszow ihnen wieder entrissen, wobei viele Geschütze er 
beutet wurden. Am 9. Oktober stellten sich bei Lancut den 
Österreichern sechs russische Kavalleriedivisionen entgegen, 
mußten aber schon nach kurzem Gefecht gegen den Sanfluß 
flüchten (vgl. auchSeite 334). Die österreichisch-ungarische An 
griffsbewegung, die nunmehr wieder aufgenommen wurde, 
hatte zur Folge, daß viele Orte, die vorher von den Russen 
besetzt waren, eiligst von diesen unwillkommenen Gästen 
geräumt wurden, so zum Beispiel Rozwadow, Dymow, 
Jaroslau, Lezajsk, Sieniawa und Chryrow. Die öster 
reichisch-ungarischen und die deutschen Truppen waren den 
zurückweichenden Russen unausgesetzt auf den Fersen, und 
bald kehrten in viele Städte, wo sich noch einige Tage 
vorher die russische Besatzung und die von den russischen 
Generalen eingesetzte Verwaltung breit gemacht hatte, die 
Landesbehörden zurück, deren erste Aufgabe es war, die 
Schäden des russischen Zwischenspiels wieder gutzumachen. 
In einigen Tagen waren die von den Russen zerstörten 
Telegraphen-, Brücken- und Bahnlinien wieder hergestellt. 
Auch der Bahnverkehr konnte wieder aufgenommen werden. 
Viele Flüchtlinge kehrten in ihre verlassenen Wohnstätten 
zurück. Aber unter welchen Verhältnissen sie sie vorgefunden 
haben mögen, zeigt nachfolgende amtliche Meldung aus 
dem österreichisch-ungarischen Kriegspressequartier: 
Unsere Truppen, die auf Tarnow über Rzeszow vor 
rückten, hatten Gelegenheit, sich von dem allen militärischen 
Begriffen hohnsprechenden barbarischen Vorgehen der russi 
schen Truppen gegenüber der einheimischen Bevölkerung zu 
überzeugen. Alle Ortschaften der Strecke bieten das Bild 
ärgster Verwüstung. In DembicaZst ein Teil der Stadt 
eingeäschert worden. Das schöne Schloß Zowada wurde, 
da die einzige mit der Aufsicht betraute Person sich weigerte, 
das ihr anvertraute Eigentum widerstandslos der Plünde 
rung preiszugeben, vollkommen ausgeraubt, in seinem Um 
kreis mit Petroleum begossen und angezündet. Alle Herren 
häuser bieten ein trauriges Bild der Verwüstung. Die 
meisten Möbel sind zerschlagen, die Spiegel mutwillig zer 
brochen, die Matratzen zerfetzt und kostbare Gemälde zer 
schnitten; der Boden ist besät mit Bergen von Fetzen, 
Papier und Scherben. Kurz, es ist ein Bild des rohesten 
Vandalismus. Die russischen Soldaten sind in den von ihnen 
besetzten Orten nach dem gleichen, offenbar von vornherein 
befohlenen System vorgegangen, das mit einer ehrlichen 
geordneten soldatischen Kampfesweise nichts gemein hat, 
sich vielmehr als ein unter dem Deckmantel militärischen 
Vorgehens unternommener Raubzug darstellt. ^ Die Be 
wohner wurden auf der Straße einer Leibesvisitation unter 
zogen, und es wurde ihnen alles, was irgend Wert hatte, 
abgenommen. Besonders hatten es die russischen Truppen 
auf die Uhren abgesehen, die mit meist 
sehr unsanftem Griff aus der Westen 
tasche des Besitzers in die Stiefelrohre 
der Kosaken wanderten. Beim Rauben 
der Uhren taten sich auch die Offiziere 
keinen Zwang an. Geraubt wurde nach 
einem sehr einfachen, dabei praktischen 
System. Die Kosaken drangen in Ru 
deln von acht bis zehn Mann in die 
Läden und Wohnungen ein und packten 
unter Vorhaltung von Revolvern Klei 
der, Pelze, Wäsche und Einrichtungs 
gegenstände in mitgebrachte Säcke. Der 
Inhalt wurde sodann mit den Offi 
zieren geteilt. In einem Spital in 
Rzeszow wurden zwanzig erkrankte 
österreichisch-ungarische Soldaten aus 
den Betten gejagt, ein Beweis dafür, 
daß selbst Kranken gegenüber das ein 
fachste Gebot der Menschlichkeit nicht 
beobachtet wurde. 
Am 14. Oktober eroberten die öster 
reichisch-ungarischen Truppen dieHöhen 
von Starasol. Gleichzeitig machte ihr Angriff gegen Stary- 
Sambor Fortschritte. Am ganzen San wurde flußabwärts 
von der Festung Przemysl lebhaft gekämpft, und dabei waren 
die k.u.k. Truppen stets im Vorteil. Am 17. Oktober konnten 
sie bereits auf dem östlichen Sanufer festen Fuß fassen. 
Stary-Sambor ist eine Stadt in Galizien und liegt etwa 
18 Kilometer südwestlich von Sambor (siehe die Karte 
Seite 231) am linken Ufer des Dnjestr. Es hat ungefähr 
5000 deutsche, polnische und ruthenische Einwohner. 
In den Kämpfen gegen Rußland schloß sich den öster 
reichisch-ungarischen Truppen die sogenannte polnische Legion 
an, eine Art Freikorps, das in erster Linie die Befreiung 
Polens vom russischen Joch anstrebt. Diese Legion ist 
aus dem polnischen Verbände der „Schützen" hervorge 
gangen. Im Januar des Jahres 1914 nahm die russische 
Polizei bei ihr verdächtigen Personen in Warschau Haus 
suchungen vor vom Boden bis zum Keller, die gewöhn 
lich damit endeten, daß mehrere Bewohner in Ketten fort 
geschleppt und nach Sibirien geschickt wurden. Viele flüch 
teten daher über die Grenze nach Krakau, und bald sam 
melten sich dort 2700 polnische Freiwillige, darunter 
200 Frauen und Mädchen. Ihr Anführer war ein ehe 
maliger Hauptmann in russischen Diensten, namens Richard, 
den die russischen Spione wie ein Wild umstellt hatten, bis 
es ihm doch endlich gelang, durchzubrechen und die alte 
polnische Krönungsstadt zu erreichen. Am Oleanderplatz in 
Krakau hielten sie Reit- und Schießübungen ab, und bald 
wurden ihnen österreichische Offiziere zur militärischen Aus 
bildung zugewiesen. Rach jenem furchtbaren 28. Juni, der 
uns die Kunde von der Bluttat in Serajewo brachte, wußten 
sie alle, daß nun der Augenblick nicht mehr fern sei, endlich 
dem russischen Bedrücker in den Arm zu fallen. Die 
Kriegserklärung an Rußland entfachte beispiellose Be 
geisterung, die in folgendem Aufruf Ausdruck fand: 
Polen! 
Der gegenwärtige Waffengang des polnischen Volkes 
richtet sich gegen Rußland, nur gegen Rußland, wie ja auch 
unsere Aufstände vom Jahre 1831 und 1863 ausschließlich 
gegen Rußland gerichtet waren. 
Schändlich wäre es, für das russische Joch zu kämpfen. 
Das würde bedeuten, daß uns die Sklaverei entwürdigt 
hat und daß die Fesseln, die uns knechten, unsere Seelen 
schon umgestaltet haben. 
Laßt euch nicht in die Netze der russischen Ränke fangen! 
Laßt euch nicht zu Ausschreitungen gegen das deutsche Heer, 
das sich zeitweise in vielen Ortschaften Polens aufhält, 
verleiten. Vermeidet alle Reibungen mit den deutschen 
Soldaten. 
Wer für die Unabhängigkeit Polens kämpfen will, der 
trete eilig den Scharen der Jungschützen bei, dem Keime 
der polnischen^Armee! Die Stunde der Entscheidung hat 
geschlagen! ^ie wird das Schicksal unseres Volkes be 
stimmen, und nun eröffnen sich uns Möglichkeiten, ein Leben 
in Unabhängigkeit zu führen, aber erst, wenn unser Erbfeind 
Rußland zerschmettert liegen wird. — 
Run gab es kein Halten mehr, und schon am 7. August 
marschierten drei polnische Legionen hinaus ins Feld, jeder 
Phot. Kühlewindt, Hofphotograph, Königsberg i. P. 
Soldaten mahlen sich ihr Mehl zum Brotbacken selbst.
	        
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