Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
zueinander der Entscheidung der Waffen überlassen. Die kaiserliche 
Negierung gibt sich der bestimmten Hoffnung hin, daß diese Even 
tualität nicht eintreten wird und die belgische Regierung die ge 
eigneten Maßnahmen zu treffen wissen wird, um zu verhindern, 
daß Vorkommnisse wie die vorstehend erwähnten sich ereignen. 
In diesem Falle würden die freundschaftlichen Bande, die beide 
Nachbarstaaten verbinden, eine weitere dauernde Festigung erfahren. 
Euer Hochwohlgeboren wollen heute abend acht Uhr der belgischen 
Regierung hiervon streng vertraulich Mitteilung machen und sie um 
Erteilung einer unzweideutigen Antwort binnen zwölf Stunden, 
also bis morgen früh acht Uhr, ersuchen. Von der Aufnahme, die 
Ihre Eröffnungen dort finden werden, und der definitiven Antwort 
der belgischen Regierung wollen Euer Hochwohlgeboren mir um 
gehend telegraphische Meldung zugehen lassen. 
(gez.) v. Jagow. 
Seiner Hochwohlgeboren 
dem Kaiserlichen Gesandten v. Below, Brüssel." 
Aus dieser Anweisung wird inan ersehen, daß rasches 
Handeln für uns Bedingung des kriegerischen Erfolges war. 
Die Franzosen waren irn Begriff, uns auf dein Wege über 
Belgien zu überfallen, und es galt, ihnen zuvorzukommen. 
Daß unsere Kriegsleitung aber so rasch zur Hand sein 
werde, wirkte geradezu verblüffend. Schon am 7. August 
wurde die folgende amtliche Meldung verbreitet: „Unsere 
Vorhuten sind vorgestern längs der ganzen Grenze nach 
Belgien eingerückt. Eure unbedeutende Truppenabteilung 
hat einen Handstreich auf Lüttich mit großer Kühnheit 
versucht. Einzelne Reiter sind in die Stadt gedrungen 
und wollten sich des Kommandanten bemächtigen, der sich 
nur durch die Flucht entziehen konnte. Der Handstreich 
auf die modern ausgebaute Festung selbst ist nicht ge 
glückt. Die Truppen stehen vor der Festung in Fühlung 
mit dem Gegner. Natürlich wird die gesamte Presse des 
feindlichen Auslandes diese Unternehmung, die auf den 
Gang der großen Operationen ohne jeden Einfluß ist, zu 
einer Niederlage stempeln. Für uns ist sie nur eine in der 
Kriegsgeschichte einzig dastehende Tat und ein Beweis für 
die todesmutige Angriffslust unserer Truppen." 
Man kann sich denken, welch allgemeines Erstaunen 
diese Nachricht hervorrief. Wir standen erst am sechsten Tage 
der Mobilmachung und von irgendwelchen Kämpfen in 
Belgien war noch nichts bekannt, und nun plötzlich diese 
Nachricht, die fast rätselhaft erschien. Nach dem Bericht 
eines belgischen Augenzeugen hatte sich dieses Heldenstück, 
das uns beinahe den Kommandanten der Festung in die 
Hände geliefert hätte, folgendermaßen zugetragen: 
General Leman war gerade an der Arbeit mit den 
Mitgliedern seines Stabes in dem Bureau der Rue 
Sainte Foy, als ganz in der Nähe wildes Geschrei laut 
wurde. „Das ist unerträglich, man kann gar nicht mehr 
arbeiten!" sagten die Offiziere, die an die Tür gingen 
und nachsehen wollten. „Die Deutschen sind da!" hieß 
es. In demselben Augenblick knallten Schüsse, und 
der arme Marchand lag am Boden. Zwei preußische 
Offiziere und sechs Mann, die Pistole in der Faust, standen 
vor dem Hause mit fähnentragenden Zivilisten (?). „Schnell 
einen Revolver her!" rief General Leman. „Herr General, 
Sie dürfen Ihr Leben im gegenwärtigen Augenblick nicht 
aufs Spiel setzen, Sie werden ja niedergemacht werden," 
rief Major L. . . — „Nein, nein, lassen Sie mich durch." 
Major L..., ein Hüne, machte kurzen Prozeß: er ergriff 
den General, der weder groß noch stark ist, und warf ihn 
über eine Mauer; dann kletterte er selbst hinüber. Nun 
war er in den Nebengebäuden der Fonderie (Waffenfabrik). 
Man schoß auf die beiden aus den Fenstern der Nachbar 
häuser, wo „Zivilisten" mit Browningpistolen aufgestellt 
waren. L... drängte den General gewaltsam in das 
Häuschen eines Fabrikarbeiters, wo die beiden Zuflucht in 
einer braven Familie fanden. Jenseits der Mauer „holten" 
die Kameraden L.s und die Gendarmen der Bedeckung 
die beiden deutschen Offiziere und die sechs Mann in einem 
kurzen Kampf „herunter", in dem auch zwei belgische 
Gendarmen getötet wurden. — Etwa siebzig oder fünfund 
siebzig Kilometer von dem Schauplatz dieses Ereignisses 
entfernt hatte der Eeneralstab der Armee eine Ahnung von 
dieser Tragödie, und zwar unter Umständen, die an das 
realistische Theaterstück: „Ein Drama am Fernsprecher" erin 
nern. Einer der Mitarbeiter Lemans, Hauptmann B., tele 
phonierte eine Meldung an den Großen Generalstab. Plötzlich 
brach er ab mit dem Rufe: „Zum Donnerwetter, die Deut 
schen sind da!" Man hörte dann nichts weiter als Schüsse. — 
Freilich war der Handstreich, der in der Nacht vom 
6. zum 7. August ausgeführt und am 7. August bekannt 
wurde, mißlungen; aber man wußte aus dieser Nachricht 
wenigstens, daß die deutschen Truppen Lüttich belagerten. 
So mancher, der sich an den Krieg von 1870/71 erinnerte, 
mochte mit einem Seufzer der langwierigen Belagerungen 
jener Zeit gedenken und mit Zweifel der Zukunft ent 
gegensehen. Eine Festung wie Lüttich konnte unsere besten 
Kräfte wochen-, ja monatelang aufhalten. Jene bedenk 
lichen Köpfe aber wurden um so mehr überrascht, als schon 
wenige Stunden später, am Abend des 7. August, in Berlin 
die folgende amtliche Nachricht verbreitet wurde: 
„Die Festung Lüttich ist von den deutschen Truppen 
im Sturm genommen worden. Nachdem die Abteilungen, 
die den Handstreich auf Lüttich unternommen hatten, 
verstärkt worden waren, wurde der Angriff durchgeführt. 
Heute morgen acht Uhr war die Festung in deutschem Besitz." 
Ein ungeheurer Jubelsturm durchbrauste die Stadt beim 
Bekanntwerdendes ersten großen deutschen Waffenerfolges, 
und alles war gespannt, Näheres zu erfahren. Doch erst 
am 17. August wurden die ersten Nachrichten durch folgende 
amtliche Darstellung ergänzt: „Uns waren Nachrichten zu 
gegangen, daß vor Ausbruch des Krieges französische 
Offiziere und vielleicht auch einige Mannschaften nach 
Lüttich entsandt waren, um die belgischen Truppen in der 
Handhabung des Festungsdienstes zu unterrichten. Vor 
Ausbruch der Feindseligkeiten war dagegen nichts einzu 
wenden. Mit Beginn des Krieges wurde es Neutralitäts 
bruch durch Frankreich und Belgien. Wir mußten schnell 
handeln. Nichtmobilisierte Regimenter wurden an die 
Grenze geworfen und auf Lüttich in Marsch gesetzt. Sechs 
schwache Friedensbrigaden mit etwas Kavallerie und 
Artillerie haben Lüttich eingenommen. Danach wurden 
sie dort mobil und erhielten als erste Verstärkung ihre 
eigenen Ergänzungsmannschaften. Zwei weitere Regimenter 
konnten nachgezogen werden, die ihre Mobilmachung so 
eben beendet hatten. Unsere Gegner wähnten bei Lüttich 
hundertzwanzigtausend Deutsche, die den Vormarsch wegen 
Schwierigkeiten der Verpflegung nicht antreten konnten. Sie 
haben sich geirrt. Die Pause hatte einen anderen Grund. Jetzt 
erst begann der deutsche Aufmarsch. Die Gegner werden 
sich überzeugen, daß die deutsche Armee gut verpflegt und 
ausgerüstet den Vormarsch antrat. Majestät hat sein 
Wort gehalten, an die Einnahme der Forts von Lüttich 
nicht einen Tropfen deutschen Blutes mehr zu setzen. 
Der Feind kannte unsere Angriffsmittel nicht. Daher 
glaubte er sich in den Forts sicher. Doch schon die schwächsten 
Geschütze unserer schweren Artillerie veranlaßten jedes 
durch sie beschossene Fort nach kurzer Beschießung zur Über 
gabe. Die noch erhaltenen Teile der Besatzungen retteten 
dadurch ihr Leben. Die Forts aber, gegen die unsere 
schweren Geschütze feuerten, wurden in allerkürzester Frist 
in Trümmerhaufen verwandelt, unter denen die Besatzung 
begraben wurde. Jetzt werden die Forts aufgeräumt und 
wieder zur Verteidigung eingerichtet. Die Festung Lüttich 
soll den von unseren Gegnern vorbereiteten Plänen nicht 
mehr dienen, sondern dem deutschen Heer ein Stützpunkt sein." 
Der fast unglaublich schnelle Erfolg unserer Belagerungs 
truppen wird aber erst erklärlich durch das wirksame Ein 
greifen unseres Militärluftschiffs „Z VI", über das wir 
bereits auf Seite 22 näher berichteten. 
Eine amtliche Meldung vom 9. August teilte dann mit, 
daß wir in Lüttich ein Viertel der gesamten belgischen 
Armee gegen uns hatten. Drei- bis viertausend Kriegs 
gefangene wurden nach Deutschland verbracht. Unsere 
Verluste waren zwar nicht unbedeutend, aber sie erreichten 
nicht im entferntesten jene Höhe, die eine langwierige 
Belagerung nach sich gezogen hätte; dagegen waren die 
Verluste der Belgier sehr groß. 
Die Bedeutung, welche die schnelle Erstürmung von 
Lüttich für uns hat, wird am besten dadurch gekennzeichnet, 
daß von seiten der französischen Strategen, wie überhaupt 
von allen Militärfachleuten angenommen worden ist, 
Lüttich dürfte eine Belagerungsarmee von etwa hundert 
zwanzigtausend Mann mindestens zwei Monate aufhalten. 
Diese hundertzwanzigtausend Mann wären dann auf so 
lange Zeit einer Feldschlacht entzogen gewesen, und nachdem 
endlichen Fall der Festung, wenn dieser wirklich herbei 
geführt worden wäre, hätte die Belagerungsarmee natür 
lich ungeheure Verluste zu verzeichnen gehabt.
	        
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